Zum Liederabend am 25. Februar 1985 in Stuttgart


   Stuttgarter Nachrichten, Mittwoch, 27. Februar 1985   

Händels "Saul" - Oratorium mit Fischer-Dieskau unter Rilling    

Barocker Pop in drei Akten

    

Weil seinen Opern kein rechter Erfolg mehr beschieden war, verlegte sich Londons komponierender, deutscher Musikunternehmer Georg Friedrich Händel auf die dutzendfache Herstellung von Oratorien, mittels derer er die schaurigschönen Begebenheiten des Alten Testaments wirksam in Klangszene setzte. Zu dieser Form barocker Händelscher Popart, die im genialen Oratorien-BestseIler "Messias" ihren nachhaltigen Höhepunkt fand, gehört auch das 1738 komponierte Oratorium "Saul", das eben jenen Übergang von der Opern- auf die chorische Oratorienszene bezeichnet. 

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Dietrich Fischer-Dieskau, mit nervigen Akzentuierungen in der Titelrolle des königlichen Bösewichtes, Julia Varady mit ihrer variablen, eindringlichen Soprangewalt, Costanza Cuccaro, dank deren glokkenreiner, federleichter Sopranbrillanz und Trillertechnik man auf gelegentliche Auger-Nachfolge schließen darf, Mechthild Georg, die mit ihrem sammetweichen Alt eindrucksvoll für den erkrankten Falsett-Artisten Kevin Smith einsprang, sowie. der Edeltenor Lutz Michael Harder und die properen solistischen Chormitglieder Markus Müller, Linda Horowitz, Stephen Bronk und Winfried Toll. Rillings Chor, knapp 50köpfig und (quantitativ) ein wenig sopranschwach, brachte - zumal im 3. Akt - wieder einige jener Glanzpunkte, die seinen primären Ruf begründeten. Master Händel, dereinst zweifellos auch mit Vokalisten der besten englischen Art gerüstet, hätte sicherlich gestaunt. Stuttgarts Publikum trug Ovationen bei.

Dieter Schorr-

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   Stuttgarter Zeitung, Mi. 27. (?) Februar 1985   

Die Israeliten von der Schwäbischen Alb

   Händels "Saul" unter Helmuth Rilling mit den Gächingern in der Liederhalle

     

Welch eine Erleichterung, nach der Karlsruher theatralischen Beschwörung von lauter Händel-Homunkuli (siehe "Wie aus dem Computer", StZ vom 25. Februar), auf dem Konzertpodium der Stuttgarter Liederhalle zum legitimen Dramatiker Händel zurückzukehren. Denn als Dramatiker, sogar als ausgesprochen realistischer Dramatiker erweist sich Händel in seinem "Saul", dessen Libretto-Erstdruck von 1738 das Werk nicht nur als "Oratorio", sondern ausdrücklich zusätzlich als "Sacred Drama" ausweist. Mit Helmuth Rilling am Dirigentenpult der Gächinger Kantorei und des Bach-Collegiums Stuttgart war vom ersten kraftstrotzenden C-Dur-Einsatz des Orchesters zum Allegro-Auftakt der Sinfonia klar, daß wir hier nicht mit einem musikalischen Bibeltraktat, sondern mit einem "Sacred Drama" rasender Leidenschaften von überlebensgroßen Charakteren konfrontiert würden.

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In der Liederhalle kamen immerhin, wenn ich richtig gezählt habe, fünfundsiebzig Nummern zur Aufführung. Mehr als die bei einem Werk dieser Länge unvermeidlichen Kürzungen und Striche hat mich der deutsche Übersetzungstext gewurmt - wieviel mehr (noch mehr) hätte beispielsweise Dietrich Fischer-Dieskau aus seinem Text herausgeholt, wenn er statt "Die Schlang' am Busen aufgenährt" das originale "A serpent, in my bosom warm'd" so richtig vipernhaft hätte herauszischen können.

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Fischer-Dieskaus Saul ist ein schillernder Psychopath, dessen Piano-Zynismen weit gefährlicher gleißen als seine offen heraustrompeteten Machtgelüste. Mag man sich getrost fragen, ob er in seiner auch physiognomisch und gestisch markant unterstrichenen Tücke und Ironie nicht zuviel des Guten tut, ob sein Saul nicht ein allzu naher Geistesverwandter der Macbeth und Boris Godunow ist, der Wucht seiner Erscheinung und seiner erzenen Stimme kann man sich schwer entziehen.

Daß Mechthild Georg die Partie des David .für den ursprünglich angekündigten Kontratenor übernommen hat, geriet der Aufführung durchaus nicht zum Nachteil. Ihr gut sitzender, schlanker Mezzosopran kommt dem jünglingshaften Charakter dieses Königs in spe entgegen, und ihre Stimme vereint sich aufs einschmeichelndste mit dem wundersam) zarten, glasfaserfeinen Sopran von Constanza Cuccaro (als Saul-Toch-ter Michal) in ihrem pastoralen Hochzeitsduett. Julia Varady, eine ungewohnte Erscheinung auf dem Konzertpodium, singt anfangs noch mit zwei verschiedenen Stimmen, rechtfertigt dann aber nach ihrer Charakterwandlung als Saul-Tochter Merab vollauf den "Honig", den sie mit Hilfe von Cello (Ulrich Böckheler) und Orgel (im Original heißt es allerdings "B. senza Org."), in ihrer späteren Friedens-Anrufung so süß von ihren Lippen träuft. Unerschütterlich in seiner Charakterfestigkeit auch der Jonathan von Lutz-Michael Harder. In kleineren Partien zeichnen sich Linda Horowitz, Stephen Bronk und Winfried Troll durch ihre schon vom Timbre her exakt rollendeckende Besetzung aus.

Doch der eigentliche Gegenspieler Sauls ist gar nicht so sehr David, sondern es ist das Volk. Und unsere Israeliten von der Schwäbischen Alb (jedenfalls ihrem Namen nach) stellen dieses Volk höchst eindrucksvoll in seiner Wankelmütigkeit dar - am eindrucksvollsten in den großen konzertanten Chören zu Beginn und am Schluß. Aber auch der Chor, der den zweiten Akt einleitet, "Weiche, höllgeborner Neid", mit seinem unaufhaltsam absteigenden Basso ostinato, gewinnt eine moralische Dringlichkeit, als hätte Rilling jeden einzelnen seiner Sänger mit Paul Henry Langs Definition von der "Geburt der Tragödie aus dem Geist der Lyrik" geimpft.

Horst Koegler

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