Zum Liederabend am 1. März 1985 in Kassel


  

     Kasseler Zeitung,  4. März 1985     

Dietrich Fischer-Dieskau auf Tournee

Erkenntnis und Magie

     

Dietrich Fischer-Dieskau ist der Nestor des deutschen Liedgesangs, daran besteht kein Zweifel, um ihn kann sich kein Sänger-Interpret herummogeln, selbst seine kritischsten Kritiker - auch sie bedeuten für den Sänger, der in diesem Jahr 60 Jahre alt wird, "viel Ehr" – betrachten ihn mit jener geheimen Bewunderung, die sie allemal einem "Kritikwürdigen" zu zollen pflegen.

Der Sänger und Forscher Fischer-Dieskau kennt sich in den verborgenen Winkeln des romantischen Liedes aus. Wie kaum ein zweiter hat er seinen affektiven Raum staunend und suchend durchmessen und läßt noch immer seine Hörer an diesem Staunen und der Lust am Finden teilnehmen. Im letzten Meisterkonzert "begnügte" er sich mit Brahms – kein spektakuläres Kontrastprogramm, sondern die konzentrierte Hinwendung auf das Werk eines ganz Großen, dem es gelang, in seinen Liedern die Erschütterung des verlorenen und verlassenen Subjekts zu bannen in jenem doppelten Sinn des Erkennens und zugleich magischen Überhöhens.,

Fischer-Dieskau ist beidem auf der Spur. Der Konflikt: Kantilene oder Deklamation, der auch ein Konflikt der Gattung Lied ist, hat er für sich gültig gelöst. Bei ihm stiften die sprachliche Vorstellungskraft, das einzelne Wort, die Satzdynamik den musikalischen Sinnzusammenhang, der körperhaft nahe den Hörer im Singen "anredet".

Zunächst mochte man sich wundern über den kräftigen Zugriff auf Mörikes "Äolsharfe", nicht hingegen über die eingestreuten Subtilitäten, die so etwas wie einen "einführenden" Charakter hatten. Es folgten Vertonungen epigonaler Dichtungen, Platen, Daumer, Schack. Auffallend, wie hier eine perfekte, sinnsuchende Sprachbehandlung die Banalitäten der Texte mitakzentuiert. In Platens "Wehe, so willst du mich wieder", "Der Strom, der neben mir verrauschte", "Wie rafft ich mich auf" muß dann die Darstellung des Reizes dieser sich oft nur an einer scheinhaften Oberfläche bewegenden romantischen Bildwelt beschränkt bleiben auf das höchst kunstvolle Arrangement der lyrisch-dramatishen Zusammenhänge. Die erfahren freilich alle Nuancierungen, deren Fischer-Dieskau fähig ist – kongenial sein Begleiter, der junge Pianist Hartmut Höll, der sich als ein leidenschaftlicher Interpret erweist, sensitiv und kraftvoll, hinhorchend und zugleich eigenwillig genug, seinen Spielraum neben dem Sänger voll zu nutzen.

Dann kamen Goethe, sein "Liebliches Kind" mit dem Zauber zärtlichen Lächelns, Kellers "Abendsegen" voll tiefer Schatten, geheimnisvolles Fragen des "Milchjungen Knaben" an "Therese" – hinreißend einfach und verwirrend zugleich.

Man fühlt es genau so, das laue, linde Wehn der "Frühlingsabenddämmerung" (Candidus). Fischer-Dieskau läßt sich Zeit, redet mit seinen Hörern, kein Wort geht verloren, kein Ton wird der Beiläufigkeit geopfert. In solchen Augenblicken wird er zum Dichter-Sänger, der in magischer Verzauberung eine Stellvertreterfunktion hat für alle, die ihm zuhören, die ihre eigene Schwermut wiedererkennen in Heines "Meerfahrt", die Ambivalenz von Liebe und Vergänglichkeit identifikatorisch erfahren in dessen "Es schauen die Blumen alle", in "Es liebt sich so lieblich im Lenze". Wie er den abstrakten Trost des "Genesen" nach der frierenden Angst "Auf dem Kirchhofe" von Liliencron überführt in einen ganz konkreten in dem Frühlingslied "Maienkätzchen", das will einem unnachahmbar vorkommen, und doch so, als wäre es nicht anders denkbar.

Die vier Zugaben nach einem beglückt gespendeten Beifall gipfelten in der "Feldeinsamkeit", die, durchleuchtet von visionärer Kraft, den Applaus endlich zum Verstummen bringen mußte.

Gerlinde Hoffmann

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