Zum Liederabend am 9. März 1985 in Freiburg


    

     Zeitung und Datum nicht bekannt     

Ein Sänger singt sich selbst

Dietrich Fischer-Dieskaus Freiburger Schumann-Abend

     

Wie konzentriert in einem Konzert zugehört wird, zeigt sich in den Pausen: Je stärker der Husten zwischen den einzelnen Stücken, desto intensiver muß auch die vorhergegangene Spannung gewesen sein.

Es wurde viel gehustet zwischen den Liedern Robert Schumanns (Liederkreis op. 39 und zwölf Lieder op. 35), die Dietrich Fischer-Dieskau bei den Albert-Konzerten im Paulussaal sang. Fischer-Dieskau, der große, vielleicht der größte deutsche Sänger nach dem Zweiten Weltkrieg, singt mit einer Intensität, die das Weghören unmöglich macht. Er erlebt die Lieder, die er singt. Die Verzweiflung, der jubelnde Überschwang dieser Lieder ist seine Verzweiflung, sein Überschwang. Seine Identifikation mit den Texten – und mit der Musik – ist total. Fischer-Dieskau scheint für sich selbst zu singen, sonst für niemanden. Das Publikum ist dabei völlig nebensächlich – es belauscht allenfalls einen großen Sänger bei seiner Wiederbegegnung mit Schumann.

Das Publikum scheint das zu spüren: Es herrscht atemlose, knisternde Spannung. Und als das einmal nicht der Fall ist, legt der Sänger eine minutenlange Zwangspause ein: Zwei verspätete Zuhörer mußten sich unbedingt den Weg zu ihren Plätzen bahnen – "Einlaß für Zuspätkommende erst in der Pause möglich" steht übrigens auf den Eintrittskarten. Bei Alltagslärm, bei mangelnder Konzentrations-Möglichkeit mag Fischer-Dieskau nicht singen.

Was macht diesen Mann eigentlich so faszinierend? Vielleicht auch, daß er sich beim Singen bewegt, daß er seinen Interpretationen auch gestisch Ausdruck verleiht – und daß sein Auftritt dennoch nichts weniger als eine Show ist. Jede Bewegung, jede sängerische Nuance ist glaubhaft, weil hinter ihr Fischer-Dieskau mit dem ganzen Gewicht seiner Persönlichkeit steht. Deshalb auch wirken selbst noch die persönlichsten Merkmale seines Interpretationsstils, wirkt selbst noch das kühnste Accelerando kein bißchen aufgesetzt. Was bei anderen Sängern vermutlich ziemlich manieristisch klingen würde, erweckt bei Fischer-Dieskau nur den Eindruck von Natürlichkeit und musikalischer Logik.

Dietrich Fischer-Dieskau ist 59 Jahre alt – also nicht mehr jung für einen Sänger. Natürlich merkt man seiner Stimme dieses Alter an. Mag sein, daß seiner Höhe die frühere Leichtigkeit abgeht, daß die Intonation manchmal ein klein wenig getrübt ist – es ist so unglaublich gleichgültig angesichts eines so großen Liederabends.

Hartmut Höll, Fischer-Dieskaus Begleiter, kommt bei einer kritischen Würdigung wohl zwangsläufig immer zu kurz. Hier sei ihm immerhin attestiert, daß er auf Tempowechsel und Stimmungs-Umschwünge des Sängers blitzschnell reagiert, daß er über ein ganz erstaunliches Einfühlungsvermögen in Dieskaus sensible Klangwelt verfügt, daß er manuell tadellos Klavier spielt, kurz: daß er ein außerordentlich fähiger Begleiter ist.

St. H.

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