Zum Liederabend am 20. Juni 1985 in Feldkirch


     Vorarlberger Nachrichten,  22. Juni 1985     

Schubertiade: 1. Liederabend Dietrich Fischer-Dieskau

Mit gewohnter Meisterschaft

     

Nach den ersten beiden Konzerten im stimmungsvollen Rittersaal des Gräflichen Palastes in Hohenems "übersiedelte" die Schubertiade am Donnerstag in die Stadthalle der Montfortstadt Feldkirch. Wenn Dietrich Fischer-Dieskau einen Liederabend ankündigt, füllen sich weltweit die größten Säle; und seit dieser begnadete Künstler bei der Schubertiade mitwirkt, kommt nach dem Bregenzer Festspielhaus nun auch – die Planung reicht weit – die Feldkircher Stadthalle zu Schubertiade-Ehren. Der mit bekannt erstklassiger Akustik ausgestattete große Saal war ausverkauft, als Kammersänger Dietrich Fischer-Dieskau die Bühne betrat, um ausgewählte Lieder von Franz Schubert zu singen – es war der erste seiner vier Liederabende in Feldkirch (Schubert, Schumann, Mahler, Wolf). Diese Liederabendserie im Rahmen der Schubertiade 1985 ist übrigens einzigartig in der bisherigen Karriere Fischer-Dieskaus – vielleicht ein Geburtstagsgeschenk des vor rund einem Monat sechzig Jahre alt gewordenen "größten Liedersängers unserer Zeit", wie ihn die internationale Kritik schon längst nennt, an seine große Verehrerschar.

Dietrich Fischer-Dieskau ist eine jener überragenden Musikerpersönlichkeiten der Gegenwart (Sänger, Dirigent, Forscher, Autor ...), die zu Recht stets mit Superlativen bedacht werden. Dietrich Fischer-Dieskau ist (immer noch) der Meister des durchgeistigten Schöngesangs in unserer Zeit. Seine Phrasierungskunst, der Wohllaut und das warme Timbre dieser Baritonstimme, der mit musikwissenschaftlicher Akribie erworbene Sinn für die künstlerische Einheit von Dichterwort und Melodie sowie die daraus folgende makellose Wortdeutlichkeit – bei der sensiblen Akustik der Feldkircher Stadthalle ging keine Silbe verloren! – sind Vorzüge, die Dietrich Fischer-Dieskau zum modernen Inbegriff höchstrangiger Liedgestaltung gemacht haben.

Franz Schubert und Fischer-Dieskau: Für unzählige Liedfreunde ist dieses künstlerische Nahverhältnis (der Sänger schrieb etwa ein fundamentales Werk über die Schubert-Lieder) das Nonplusultra der Schubert-Interpretation. Bei seinem Feldkircher Schubertiade-Konzert sang Fischer-Dieskau ausgewählte Lieder nach Texten der Dichter Schmidt von Lübeck, Fouqué, Mayrhofer, Claudius, Schiller, Schlegel, Goethe, Senn, Rückert und Schlechta. Ein dichterischer Bogen also, der sich über das ganze idealistische Zeitalter – mit Schwerpunkt Romantik – spannt. Hartmut Höll am Bösendorfer war nicht nur "Begleiter" der Schubert-Lieder, er war vielmehr Fischer-Dieskaus kongenialer Partner beim Ausloten der diffizilen musikalischen Welten des Komponisten.

Welche der 18 Gesänge vermittelten wohl die stärksten Hörerlebnisse? Die Auswahl muß subjektiv sein: "Der Wanderer" von Schmidt von Lübeck (D 489) und "Der Wanderer" von F.v. Schlegel (D 649) – zweimal Heimatlosigkeit des Menschen, doch während Fischer-Dieskau den "Wanderer" Schmidts mit klagender Trauer erfüllte, schenkte er dem Pendant Schlegels die friedliche Gelassenheit der Resignation.

Dieselbe Ruhe strömte aus dem berühmten Lied "Der Tod und das Mädchen" (Matthias Claudius, D 531). Das um sein Leben flehende Mädchen, der Tod als Freund – Fischer-Dieskau schafft vokale Bilder von höchster Ausdruckskraft! Vor allem auch dann, wenn Wasser, das vielbesungene rastlose Element der Romantik, für Stimmungskontraste sorgt ("Wie Ulfru fischt", Johann Mayrhofer, D 525; "Der Schiffer", ebenfalls von Mayrhofer, D 536; "Der Strom", unbekannter Dichter, D 565; "Fischerweise", Franz Xaver Freiherr von Schlechta, D 881 – sie wurde leichtfüßig-kokett mit herrlicher Pianokultur dargeboten!).

Mit dem Pathos ernster, männlicher Reife gestaltete Fischer-Dieskau hingegen etwa die Goetheschen "Grenzen der Menschheit" (D 716) oder den frostigen "Greisengesang" nach Friedrich Rückerst Wortern (D 778). Friedrich Schillers "Gruppe aus dem Tartarus" (D 583) wurde durch die dramatische Kraft Fischer-Dieskaus zum gequälten Aufschrei der Kreatur. Auch die kleinste Phrase, die scheinbar unbedeutende Silbe wird vom Meister ernst genommen, wird eingeordnet in den organischen Bau des zu gestaltenden Liedes. Nichts wird dem Zufall überlassen, dennoch stört diese Perfektion nie; sie ist nur das Gefäß für das fühlende Herz des großen Liedersängers.

Mit gewohnter Meisterschaft hat Dietrich Fischer-Dieskau wieder einmal Schubert gesungen und jene Menschen, die an seinen Lippen hingen, damit beglückt, aber auch fasziniert. Der Kammersänger kam beim stürmischen Schlußapplaus in Geberlaune und verschenkte noch fünf (!) Zugaben an seine Bewunderer (u.a. "Meeresstille", "Der Einsame" und das populäre "Im Abendrot"). Um so peinlicher wirkte die Hast etlicher Zuhörer, schon während der köstlichen Encores zur Garderobe zu kommen.

Am Anfang stand Schubert – ein Großer wie Dietrich Fischer-Dieskau weiß, daß der Wiener Liederfürst das Alpha und Omega der Liedkunst ist.

Dr. Edgar Schmidt

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     Neue Vorarlberger Tageszeitung,  22. Juni 1985     

Schubert-Abend mit Dietrich Fischer-Dieskau

Jedes Lied die Essenz einer kleinen Novelle

   

Müßte man derzeit die besten Liedinterpreten an einer Hand aufzählen, wäre Dietrich Fischer-Dieskau sicher dabei, ob er in der dünnen Luft einer solchen Olympiade immer die Goldmedaille erringen würde, kann hier nicht entschieden werden. Eine Behauptung aber sei gewagt. Es ist kaum vorstellbar, daß "Der Tod und das Mädchen" vollendeter gestaltet werden kann, als dies Fischer-Dieskau bei seinem Schubert-Abend in der Feldkircher Stadthalle erreicht hat.

Vielschichtige Themen nach Texten von Goethe über Mayrhofer, Schiller bis eben Claudius, ermöglichten ihm, die große Palette seiner Interpretationskunst aufzufächern. Seine langjährige Opernerfahrung kommt ihm zugute.

Er weiß, wo die dramatischen Akzente zu setzen sind, wie die "szenische Regie" im Rahmen des Liedes ablaufen muß. Und, das wichtigste: Es bleibt bei ihm Lied – wird nie zur Oper – jedes die Essenz einer kleinen Novelle.

Sein Publikum hat ihn verstanden. In einer der fünf Zugaben – Zugaben und Applaus erstreckten sich über eine halbe Stunde – nach "Oh wie schön ist deine Welt, Vater, wenn sie golden strahlet ..." setzte der Beifall erst nach einem sekundenlangen Zögern der Betroffenheit ein. Nun zu denken, Fischer-Dieskau sei nur Fachmann für sensibles Todessehnen oder dramatische Balladen, wäre falsch. Daß er das Heitere, Humorvolle mitsamt der Selbstironie exzellent beherrscht, bewies er mit "Wenn meine Grillen schwirren".

Am Klavier begleitete Hartmut Höll. Steht ein Fischer-Dieskau auf der Bühne, lenkt er naturgemäß ein Großteil der Aufmerksamkeit auf sich. Schubert aber hat seine Lieder für zwei Künstler geschrieben. Für zwei Stimmen gewissermaßen. Für die des Menschen und die des Instrumentes. Hartmut Hölls Mitgestaltungswille und Können wurde dieser vom Komponisten gestellten Aufgabe auf wunderbare Weise gerecht. Hinzukommt, daß er seinen Sänger genau kennt und beider Intentionen kongruent sind.

Eva Jakob

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