Zum Liederabend am 26. August 1985 in Göttingen  


     Göttinger Tageblatt, 27. August 1985     

Germanist unter den Sängern

     

Üblicherweise zählen Konzerte nicht zum "Beiprogramm" von Kongressen.Mit dem Liederabend Dietrich Fischer-Dieskaus verhielt es sich anders: Hier hatte man den Germanisten unter den Sängern engagiert, einen Musiker, der sich wie kein zweiter intensiv um das Verhältnis zwischen Text und Musik Gedanken gemacht hat. Seine musikalische Textausdeutung zu rühmen, ist überflüssig: Schließlich ist er es, der auf diesem Gebiet die Maßstäbe gesetzt hat.

Das Thema des Konzerts "Goethelieder - kontrovers" ist in gewisser Weise irreführend. Wohl haben Franz Schubert und Hugo Wolf, von denen Dietrich Fischer-Dieskau Doppelvertonungen Goethescher Gedichte sang, den Dichter auf verschiedene Weise interpretiert. Ob es aber wirklich kontrovers ist, wenn sich verschiedene historische Epochen musikalisch auf verschiedene Weise äußern, scheint fraglich. Denn – nicht nur musikalisch – wird jede Zeit Goethe auf ihre Weise verstehen, eine "endgültig richtige" Interpretation wird es weder in der Germanistik noch bei der Vertonung von Gedichten geben. Glücklicherweise.

Die eher nach innen gerichtete Kunst Schuberts liegt Dietrich Fischer-Dieskau vielleicht noch näher am Herzen als die stellenweise geradezu raffinierten Vertonungen Hugo Wolfs, dem ein reicher Schatz an harmonischen Reizen zu Gebote steht. Aber selbst eine noch so ausgetüftelte Modulation kann kaum an die Wirkung reichen, die Schubert mit einer Wendung aus zwei Akkorden erzielt: Er taucht die Musik unvermittelt gleichsam in ein neues Licht.

Die stilistische Verschiedenartigkeit der Lieder (innerhalb derer auch überraschende Verwandtschaften zwischen Schubert und Wolf aufschienen) gab Dietrich Fischer-Dieskau reichlich Gelegenheit, die große Modulationsfähigkeit seiner Stimme, seinen schier unerschöpflichen Vorrat an Ausdrucksnuancierungen zu zeigen. Die Spannweite von Hugo Wolfs "Prometheus" bis Schuberts "Wandrers Nachtlied" ist enorm; Dietrich Fischer-Dieskau bewältigt sie ohne Mühe.

Und selbst am Ende eines vergleichsweise langen Programms gelingen ihm die dramatischen Akzente mit einer Wucht, die die stilistischen Grenzen eines Klavierlieds fast zu sprengen droht.

Die Begleitkunst Hartmut Hölls ist auf demselben hohen musikalischen Niveau angesiedelt; es ist kaum übertrieben, hier von einer idealen Künstler-Partnerschaft zu sprechen.

Am Schluß gab es prasselnden Beifall in der vollbesetzten Stadthalle, Bravorufe, Zugaben. Eine davon hatte es schon zu Beginn des Abends gegeben: Eine Vertonung des Goethe-Gedichts "Zum Bildchen Ruine Pless bei Göttingen" von Stefan Bevier (Jahrgang 1958), einem Schüler Dietrich Fischer-Dieskaus. Eine pfiffige, ja musikalisch hintersinnige Vertonung, mit der der Sänger dem Kongreß eine vergnügliche Reverenz erwies.

Michael Schäfer

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