Zum Konzert am 3. September 1985 in Berlin


Der Tagesspiegel, Datum unbekannt

Poesie, die unterwegs ist

Das Ensemble Modern zur Eröffnung der Festwochen

Die jungen Musiker des Ensemble Modern erhielten Beifall, der nicht aufhören wollte. Das Eröffnungskonzert der 35. Berliner Festwochen gehörte ihnen unter der Leitung von Ernest Bour, dem weisen Meister der Avantgarde.

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Wenn der Dichter Paul Celan einmal das Gedicht als eine seinem Wesen nach dialogische Erscheinungsform der Sprache mit einer Flaschenpost verglichen hat, die vielleicht irgendwo, irgendwann an Land, "an Herzland" gespült werden könnte, so scheint seinem Hoffen besonders die Wirkung auf die Musiker recht zu geben. Ob Aribert Reimann oder Peter Ruzicka - sie lassen einer kompositorischen Auseinandersetzung mit Celan die weitere folgen. Das mag einen Grund darin haben, daß die Texte, die sich einer traditionellen Textauslegung verweigern, als poetische Wirklichkeit zwar "zu sich selber" sprechen, aber dennoch "unterwegs" sind, auf etwas zusteuern: "Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht..." Empfänglichkeit der Musiker: den Tönen wird Einlaß zuteil im Raum zwischen den Worten.

Der Komponist Peter Ruzicka hat sich zum wiederholten Mal der Nachlaßsammlung "Zeitgehöft" angenommen, der letzten Gedichte, die Paul Celan vor seinem Freitod 1970 schrieb. Das Werk des Jahres 1985, das im Auftrag der Berliner Festwochen entstand und in der Philharmonie uraufgeführt wurde, hat die Gedichtzeile "... der die Gesänge zerschlug" zum Titel, ist "Stele für Paul Celan" genannt, für Bariton und Kammerensemble komponiert und Dietrich Fischer-Dieskau gewidmet. In charakteristisch dunklen Klang von Baßflöte und Baßklarinette bettet Ruzicka den Beginn "Alle die Schlafgestalten"; "Mein Blut" und "Warten" tragen Zeichen hermetischer Eingeschlossenheit, musikalischer Repetition. Moderne Spieltechniken werden im Aufruhr zu Mitteln der Empfindung, zeigen, daß der "plötzliche Ausbruch" nicht nur im ersten der instrumentalen Intermezzi zwischen den Gedichten, das "Tumultuoso", das Fortissimo Abglanz einer eigentlich leisen Komposition sind, deren Pausen ("bliebe aus") noch Spannung im Verschweigen äußern. "Wie ein fernes Signal" und "noch ferner" tönt ein Trompetensignal.

Am Ende weht ein seltsamer "Canto" daher, der Erinnerungscharakter trägt und doch künstlich ist. Ruzicka reflektiert, wie er mir im Gespräch erklärte, "aus dem Unterbewußtsein" einen Nachklang dessen, was er im Frühsommer in Israel aufgenommen hat: zunächst durch Flöte und Baßklarinette, dann erweitert durch gedämpfte Violine und Viola, schließlich in der Singstimme und Solovioline, die sich im Unisono verbinden. Der Komponist hat hier für das "Komm herein" bedeutende Wort "Hachnissini", mit dem das Gedicht endet, bewußt die Vokalise "Ha" eingesetzt. Und der geschwisterliche Einklang der Instrumentallinie mit der atmenden Stimme des unvergleichlichen Sängers ("lontano", von fern), ein Höhepunkt auch der Interpretation vor der ausmusizierten Stille, haftet, weil der Sprach-Freiheit der Lyrik (nicht ihrem Verstummen) eine musikalische zu antworten sucht. Konzentrierte 20 Minuten, für die Ruzicka, Fischer-Dieskau, Bour und das Ensemble herzlich gefeiert wurden.

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Sybill Mahlke

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