Zum Konzert am 6. September 1985 in Berlin


    

     Berliner Morgenpost, 8. September 1985     

Furioser Start zum Orchesterfest der ARD

Fischer-Dieskau prägte Fragmente des "Lear"

     

Was für ein Anfang! Das Orchesterfest der ARD, das in den kommenden Wochen mit einem Defilee aller deutschen Rundfunk-Sinfonie-Orchester in Berlin aufwarten wird, hob nicht etwa mit freundlichen, festlichen Tönen an, wie es bei musikalischen Festivitäten meist der Fall ist. Was einleitend zu vernehmen war, stammte aus dem Düstersten aller Tragödien der Weltliteratur: Fragmente aus Shakespeares "Lear".

Aribert Reimann hat vor sieben Jahren mit der Vertonung dieses Stoffes Furore gemacht. Seine Literatur-Oper war nach ihrer Münchener Uraufführung auch in Berlin zu sehen, freilich nicht im Haus an der Bismarckstraße, sondern in der Ost-Berliner Komischen Oper, inszeniert von Harry Kupfer.

Der überragende Protagonist bei der Uraufführung 1978 war Dietrich Fischer-Dieskau. Er war nun auch in der Philharmonie zur Stelle, um vier Lear-Monologe vorzutragen: Vier Opernausschnitte, die schlagartig aufblenden, worauf Reimann bei der Vertonung dieses gewissermaßen nachtschwarzen pessimistischen Sujets zielte: Ein Pandämonion der Pervertierung des Menschen durch Macht, Lear als schmerzlich verklärte Vaterfigur, ein überdimensioniertes Denkmal der Klage und Weltanklage.

Musikalisch findet das seine Entsprechung in wild zerklüfteten Klängen. Massive Tontrauben werden kunstvoll aufeinandergeschichtet. Es setzt tosende und tobende Klanggewitter, sie zerren an den Nerven, doch zugleich packen sie den Hörer. Sie rühren ihn an.

Das ist natürlich in erster Linie das interpretatorische Verdienst Fischer-Dieskaus. Auf seinem Gesicht war deutlich abzulesen, wie sehr er in der Rolle lebt, wie er in ihr aufgeht. Erst nach Momenten der Beklemmung löste sich mächtiger Beifall, in den auch der Komponist einbezogen wurde.

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W. Sch.

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     Der Tagespiegel, Berlin, ?. September 1985     

Musik aus dem Traumatischen

Orchesterfest der ARD mit Chailly und Fischer-Dieskau

    

Mit einem Konzert des Radio-Symphonie-Orchesters Berlin in der Philharmonie begann am Freitag abend das Orchesterfest der ARD, eine Konzertreihe, der im Musikprogramm der Festwochen eine zentrale Position zugewiesen ist. Als Veranstalter und Finanzier zeichnet der Sender Freies Berlin; was die Werke und die Mirtwirkenden angeht, hätte sich eine bessere Wahl schwerlich treffen lassen. Das Konzert wurde vom Ersten Deutschen Fernsehen live übertragen. Im ersten Teil des lapidaren Programms erklangen die "Fragmente aus ‚Lear’ für Bariton und Orchester", die Aribert Reimann 1980, zwei Jahre nach der Münchner Uraufführung seiner Oper, aus der Partitur zusammengestellt hat; im zweiten dirigierte Riccardo Chailly Strawinskys "Le sacre du printemps", ein Schlüsselwerk der Neuen Musik, das seit seiner Pariser Uraufführung im Jahre 1913 kaum etwas von seiner elementaren Wirkung eingebüßt hat.

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Reimann hat seine "Lear"-Oper auf Anregung Dietrich Fischer-Dieskaus geschrieben; bei der Uraufführung wurde der große Sänger nahezu einmütig als der heute wohl denkbar beste Interpret der Titelpartie gerühmt. Das dürfte er, wie er bei seinem Auftritt in der Philharmonie darzutun vermochte, noch immer sein. Vom düster psalmodierenden unbegleiteten Prolog, in dem er mit den Worten Shakespeares vom törichten Machtverzicht des Königs zugunsten seiner Töchter berichtete, bis zum dritten Monolog, in dem er zusammen mit der im Fahlen ersterbenden Musik Lears Sehnsucht nach einem Zurücksinken "in Nacht und Schlaf" mit ersterbender Stimme den adäquaten Ausdruck gab, war Fischer-Dieskau im vollen Besitz seiner leidenschaftlichen musikalischen Gestaltungskraft und seiner sprachlichen Artikulationsfähigkeit.

Indem der Sänger das konzentriert lauschende Publikum in seinen Bann zog, zog er es auch in den Bann der Reimannschen Musik, die sich an der Peripherie der heilen Opernwelt schon im ersten Zwischenspiel mit thematisierten Folgen verclusterter Akkorde und gewitternder Schlagwerk-Frenesien ins Finstere, vorzeitlich Magische, Unerlöste und Unerlösbare einwühlt und diesen Bereich nicht mehr verläßt. Hoffnung gibt es in dieser neoexpressionistisch gärenden "Lear"-Welt nicht mehr, allenfalls noch ein paar rasch verbleichende Erinnerungen an sie, auskomponiert beispielsweise in der trauervollen, langsam ins Dunkle absinkenden Kantilene der tiefen Flöte, die Karl Bernhard Sebon bewegend intonierte. Chailly und das mit hörbarer Engagiertheit musizierende Orchester erschlossen die zwischen Verzweiflungsschrei und dumpfer Agonie vagierende Musik ohne Rest; der Beifall für sie, für Dietrich Fischer-Dieskau und den Komponisten war enorm.

Hellmut Kotschenreuther

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