Zum Liederabend am 22. September 1985 in München

   


 

     Süddeutsche Zeitung, 24. September 1985     

Über hauchdünnem Eis

Dietrich Fischer-Dieskau singt Schumann

     

Die Frage, welcher Rang dem Musiker, dem Interpreten, dem Sänger, dem Darsteller Dietrich Fischer-Dieskau zukommt, ist längst entschieden. Im ausverkauften Münchner Herkulessaal hatte er sich (nach Schubert und vor Mahler und Wolf) an seinem zweiten Abend Robert Schumanns angenommen, genauer: der zwölf Eichendorff- und zwölf Kerner-Lieder (op. 39 und op. 35).

Wer Fischer-Dieskaus Buch über das Vokalwerk Schumanns kennt, weiß, mit welcher Akribie er dem Phänomen "Wort und Musik" nachgegangen ist. Selbst kleine, aber keineswegs unwichtige Textänderungen werden protokollarisch festgehalten. In der "Mondnacht" machte Claras Abschrift aus dem "nun träumen müßt" ein "nur träumen müßt" (das noch immer gilt), und wenn Eichendorffs "In der Fremde" schließt: "Und keiner kennt mich auch hier", dann wird daraus bei Schumann "und keiner kennt mich mehr hier". Einmal ein Kopierfehler, zum anderen die Beugung des Textes zugunsten der Musik. Je mehr man sich mit diesen Liedern beschäftigt, um so verunsicherter wird man angesichts der Verzahnung von Wort und Musik, die nun alles andere als eine bequeme bis langweilige Ehe eingegangen ist. Vorsichtige Wanderungen über hauchdünnem Eis versprechen bei Schumann nie das rettende Ufer, sondern machen in der sich durchdringenden Dialektik die Gefährdung um so deutlicher, den schlichten Naturton zum trügerischen Schein. Bei dem allergrößten Respekt vor Fischer-Dieskaus bewunderungswürdiger Konzentrationsleistung – vielleicht sollte er dennoch nicht auf alle Texthilfen verzichten. Einige kleine Abweichungen unterliefen ihm.

Man nimmt sie natürlich in Kauf, wenn derart makellos interpretiert wird: Durchdacht bis ins Detail, wird stets glänzend phrasiert, sinnvoll textdeutend dynamisiert, klangschön gesungen (wobei auch der Wechsel in die höhere Lage in "Stirb, Lieb’ und Freud’" mühelos gemeistert ist). Die "mitternächt’ge Stunde" aus "Auf das Trinkglas eines verstorbenen Freundes" wird zu einem langen Augenblick. Und wie genau lauscht dieser Sänger den harmonischen Aufregungen nach, die das Klavier in "Stille Liebe" wagt – als wäre dies, nicht er die Hauptperson des Abends. Entwaffnende Redlichkeit.

Ein halbes Dutzend Zugaben, und hier schien er von der Last der zyklischen Form, auswendig dargeboten, befreit. Großen Anteil an dem sensationellen Erfolg dieses Abends hatte zweifellos Hartmut Höll, der alle Tugenden eines Begleiters zu vereinen scheint, ohne sich jemals zu verstecken. Keine Nuance ging verloren, und hinsichtlich der Auffassung scheint es zwischen ihm und dem weltberühmten Liedersänger keinerlei Unstimmigkeiten zu geben.

Baldur Bockhoff

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     Münchner Merkur, 24. September 1985     

Manierismus überwunden

Fischer-Dieskaus 2. Liederabend in München

   

Dietrich Fischer-Dieskaus Auftritte sind seit geraumer Zeit nicht mehr ohne Risiko; 40 Sänger-Jahre haben ihren Tribut gefordert. Beim zweiten Münchner Liederabend allerdings erlebten wir ihn in selten gewordener durchgehender Hochform.

Dieskaus Stimme hat sich deutlich verändert. Die tiefe Lage ist rauher geworden, und die mittlere bis hohe hat einiges von ihrem tenoralen Glanz verloren, scheint wie überzogen von einer Patinaschicht. Es ist, als läge darüber ein Hauch von Trauer und Gebrochenheit.

Auch der Stil hat sich gewandelt. Wobei es scheint, als sei dies mehr als nur Anpassung an den stimmlichen Alterungsprozeß. Fischer-Dieskau ist zurückhaltender geworden, vorsichtiger; vor allem aber sparsamer im Einsatz seiner Ausdrucksmittel. So meidet er jetzt weitgehend die oft unmotivierten Gewaltausbrüche; sein Vortrag ist ruhiger geworden, fließender, organischer; vertraut mehr dem Melos als der eigenen, subjektiven Textausdeutung, kurz: Fischer-Dieskau hat die Zeit des Manierismus hinter sich gelassen. Und das ist ein enormer Gewinn. Eigentlich sollte er jetzt darangehen, all seine früheren Liedaufnahmen zu wiederholen;: es würde ein gültiges Vermächtnis.

Der Schumann-Abend stellte den später entstandenen Eichendorff-Liederkreis den Kerner-Liedern voran. Er ist, auch ohne durchgehenden novellistischen Faden der geschlossenere. Ein Gefühl der Resignation, der Skepsis liegt darüber und Fischer-Dieskau realisiert das bei gebremster Dynamik mit vorwiegend stimmalerischen Mitteln.

In der "Mondnacht", dritte Strophe, ist es lediglich ein sehr behutsames Crescendo, während dessen sich der Stimmklang vom samtigen Gold- zum lichten Silberton wandelt; bei der Nummer 7 ("Auf einer Burg") eine Art Grisaille-Malerei, die den Eindruck von Furcht und Unwirklichkeit suggeriert, und im "Zwielicht" schließlich sind die Mittel beinahe zum Nichts reduziert; dennoch ereignet sich Ungeheuerliches, wenn er die letzte Zeile, die Warnung, quasi tonlos nur noch fallen läßt.

Von allerhöchster musikalischer Konzentration auch das anschließende Opus 35, wobei ihm, die zwei letzten Titel, wiederum in totaler Reduktion, am eindringlichsten gelangen. – Das Publikum quittierte Dieskaus neugewonnene Ökonomie mit frenetischem Jubel, darin eingeschlossen auch der Dank an den exzellenten Klavierpartner Hartmut Höll (Herkulessaal).

Michael Müller

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     Abendzeitung, München, 24. September 1985     

Da stockte einem der Atem

Beklemmende Faszination: Fischer-Dieskau mit Schumann-Liedern im Herkulessaal

   

In seinem zweiten Münchner Liederabend sang Dietrich Fischer-Dieskau die Liederzyklen op. 39 und op. 35 von Robert Schumann. Am Klavier: Hartmut Höll (Herkulessaal).

Die Liederabende Fischer-Dieskaus stecken stets voller Überraschungen. Niemals ist sich der so unverwechselbare Sänger gleich, niemals wird man bei ihm Interpretationsmuster oder Klischees abspulen hören. Während sich Fischer-Dieskaus frühere Liedgestaltungen durch starkes intellektuelles Ausloten der Texte auszeichneten, die klare und pronocierte Deklamation einen breiten Raum einnahm, erlebten wir an diesem Abend introvertierte, nach innen gerichtete Wiedergaben von beklemmender Faszination.

Die Stille und das ruhige Tempo bilden wesentliche Ausdrucksformen der Wiedergabe. Den Eichendorff-Liederkreis op. 39 nahm der Sänger langsamer als in früheren Jahren, und so war die fahle Beklommenheit etwa eines Liedes wie "Auf einer Burg" kaum jemals so bezwingend zu hören wie an diesem Abend. Die Piano-Regionen sind zum zentralen Ausdrucksfeld des Sängers geworden. Feinste psychologische Bebungen werden in empfindsame vokale Schwingungen umgesetzt, und als Fischer-Dieskau seinen Liederabend mit der "alten Laute", einem wehmütigen Rückblick auf eine unwiederbringliche Jugendzeit, beendete, da stockte dem vollbesetzten Herkulessaal förmlich der Atem, da war eine Identifikation mit dem Gesungenen bei jedem Hörer zu verspüren. Kongenial auch diesmal als Partner: Hartmut Höll am Klavier.

Rüdiger Schwarz

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     tz, München, 24. September 1985     

Fahle Einsamkeit

Fischer-Dieskau sang Schumann

   

Der zweite Liederabend, den Dietrich Fischer-Dieskau in seinem Liederzyklus im Herkulessaal gab, war Robert Schumann gewidmet, aufgeteilt in den Liederkreis nach Gedichten von Joseph von Eichendorff und Liedern nach Gedichten von Justinus Kerner.

Der Sänger war wieder ganz Herr seiner Stimme und fand zu einem schier entmaterialisierten Pianissimo. So gelang die "Mondnacht" beinahe überirdisch, und die fahle Einsamkeit und Zeitlosigkeit "Auf der Burg" wirkte beklemmend.

Im "Wanderlied" kam es zu wiederholten Aussetzern im Text, doch das nimmt man gern für die herrlich romantischen Aufschwünge der "Frühlingsnacht" hin.

Das Außergewöhnliche hielt bis zu den letzten Liedern an: welcher Ausdruck in "Stille Liebe", "Frage" oder "Wer machte dich so krank"!

Wieder war Hartmut Höll der adäquate Partner am Flügel. Höll konnte nicht nur seinen ungewöhnlichen Rang als Pianist einbringen, sondern er fand auch den rechten Ton für die vielen Zwischen- und Nachspiele, die für Schumann-Lieder so charakteristisch sind, in denen gewissermaßen die Gedanken der Texte noch weitergesponnen werden.

Karl-Robert Danler

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