Zum Liederabend am 24. September 1985 in Berlin


     Berliner Morgenpost, 26. September 1985     

Melancholische Poesie mit der Stimme erfühlt

     

Es grenzt immer wieder fast an ein Wunder: Schon vom ersten Ton an gelingt es Dietrich Fischer-Dieskau, sich zu einem interpretatorischen Höhenflug emporzuschwingen, der das Publikum auf Anhieb in den Bann schlägt, jene unvergleichlichen, wohl nur Dieskau zugänglichen Wirkungen zu erzielen, die Liederabende zu Erlebnissen machen.

Dieses schon so oft erlebte und gerühmte Mirakel stellte sich auch bei Dieskaus zweitem Recital, das ausschließlich Robert Schumann gewidmet war, in der vollbesetzten Deutschen Oper ein. Mit der "Waldeinsamkeit", dem Anfangslied des Eichendorff-Zyklus opus 39 eröffnete Dieskau seine maßstabsetzende Interpretation: wunderbar nuancierte Farben, romantische Aufschwünge, immer wieder grundiert von melancholisch eingedunkelter Poesie.

Den zweiten Teil des Abends nahm der Liederkreis nach Gedichten von Justinus Kerner ein. Das ist Schumanns wohl schwierigster, weil ungefälligster, sprödester Zyklus. Aber natürlich geht es auch hier ähnlich wie bei Eichendorff zu: ein klagendes Kreisen um zerbrechende Gefühle, Suche nach verlorener Liebe, schließllich ein eher vager Trost in der Natur und Gläubigkeit. Das Fazit ist auch hier letztlich Resignation.

Für so etwas ist Fischer-Dieskau der wohl derzeit berufenste Interpret. Weitgespannt zwischen dramatischer Erregtheit und of unterschwellig zum Zerreißen intensiv gespannter Ruhe ging Dieskau fast bis an die Grenzen seiner expressiven Möglichkeiten; ohne Frage ein ideales, zwölfteiliges romantisches Liederpsychogramm, so hypersensibel, packend und kunstfertig wie es wohl kaum ein Zweiter neben Dieskau zu erfühlen und zu ersingen vermag.

Das Auditorium lauschte außerordentlich konzentriert. Es erklatschte sich am Ende noch sechs Zugaben und bezog in den jubelnden Applaus auch den Pianisten mit ein. Hartmut Höll war kein Begleiter, sondern ein echter Mitspieler; ein ebenso gestaltungsmächtiger und gestaltungsfreudiger Flügelpartner, dessen Phantasie sich der des Sängers als durchaus ebenbürtig erwies.

W. Sch.

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