Zum Liederabend am 1. Oktober 1985 in München


    

     Münchner Merkur, Datum unbekannt     

Mit Lyrik und Natürlichkeit

Fischer-Dieskau sang in München Hugo Wolf-Mörike-Lieder

     

Der vierte Komponist, dem Dietrich Fischer-Dieskau innerhalb kurzer Zeit einen ganzen Abend widmete, war Hugo Wolf; gleichalt übrigens mit dem vorangegangenen Gustav Mahler, aber nur von sehr weitschichtiger musikalischer Verwandtschaft. Tief ernst begann der Sänger; beidemale von der zuversichtlichen Wendung in Dur überkrönt: "Der Genesene an die Hoffnung" und "In der Frühe". Höhepunkt des ersten der beiden, jeweils zehn Lieder umfassenden Teile die kongeniale Gestaltung der Ballade vom "Feuerreiter", deren unheimliche, auch grausige Züge FischerDieskau seit je außerordentlich wirkungsvoll und dramatisch zur Geltung bringt; Abschluß dieser Hälfte die lustige "Storchenbotschaft". Davor, unter anderen, das wieder sehr ernste Lied "An den Schlaf", das auch textlich sehr schöne "Denk es, o Seele", die allseits bekannte und beliebte "Fußreise".

Eduard Mörikes zwischen Romantik und erstaunlichen Realismen pendelnde Poesie hatte es Wolf im Jahr 1888 angetan, als er in zwei Schüben mehr als fünfzig Vertonungen zu Papier brachte – in der Aufeinanderfolge oft völlig gegensätzliche; manchmal zwei Lieder an einem Tag. Fischer-Dieskau und sein gewandter, wenn auch pianistisch nicht immer ganz überzeugender Begleiter Hartmut Höll bilden inzwischen ein so festgefügtes Team, daß an keiner Stelle ihres Wolf-Mörike-Programms ein Einwand anzubringen wäre: die Harmonik, die Chromatik Wolfs, nicht selten in Neuland vorstoßend, kamen stets einleuchtend und mit großer Selbstverständlichkeit zum Klingen; Fischer-Dieskaus technisches Können bezwang mühelos gelegentliche Schwächen beim Registerwechsel oder in der etwas substanzarmen Höhe. Seine Eigenarten des Vortrags, wie etwa die Anwendung einer überraschend engräumigen Dynamik, traten nie zu stark hervor.

Trotz aller Textverbundenheit verließ er an diesem Abend nie die musikalische Basis des vokalen Vortrags – außer in der relativ dezenten Anwendung karikierender, das Groteske kennzeichnender Mittel, wie in den Liedern "Bei einer Trauung", "Zur Warnung" und dem wie immer von durchschlagendem Erfolg begleiteten "Abschied" des zudringlichen Kritikers. Die von Hartmut Höll mit viel Schwung hingelegte Walzer-Coda drohte schon im vorzeitigen Applaus unterzugehen.

Begonnen hatte der zweite Teil versonnen und lyrisch mit "Im Frühling", sein Ausklang waren – natürlich – die Zugaben, "Verborgenheit", "Selbstgeständnis", "Der Tambour". – Ovationen im dicht besetzten Münchner Herkulessaal.

Karl Robert Brachtel

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     Abendzeitung, München, 3. Oktober 1985     

Des Sängers Disziplin

Fischer-Dieskau mit Mörike/Wolf

   

In seinem vierten und letzten Liedertabend sang Dietrich Fischer-Dieskau Mörike-Lieder von Hugo Wolf. Am Klavier: Hartmut Höll.

Die Lieder Hugo Wolfs zeichnen sich in besonderer Weise durch die enge Beziehung zum Text aus. Die Musik wird dem Wort dienstbar gemacht. Sie sucht für jede Situation, jede Stimmung und jeden Charakter einen erschöpfenden Ausdruck. Dem Sänger fällt die Aufgabe zu, dieses Kaleidoskop der Schattierungen für den Hörer erreichbar zu machen. Mit einer hübschen Stimme ist hier noch wenig getan.

Wiederum ist es Fischer-Dieskau in unnachahmlicher Weise gelungen, das Wesen der Musik im Zentrum zu treffen. Seine Kunst der Farbgebung, der Differenzierung, die Vielseitigkeit des Ausdrucks und spezifische Konsonantenbehandlung waren wie zufällig und ganz natürliche Träger des Geschehens. Indem sich der Sänger selber höchste Disziplin, Konzentration und Gefühlsbeschränkung auferlegte, vermochte er den Hörer bis in Tiefenbereiche emotional anzusprechen. Bei Hugo Wolf gelang ihm ziemlich alles nahtlos und mit natürlicher Selbstverständlichkeit, seine mezza voce klingt noch genauso bewegend wie vor 20 Jahren.

Da sich auch Hartmut Höll als feinsinniger Mitgestalter großen Formats erwies, wurde auch dieser Liederabend zu einem künstlerischen Ereignis, wie wir es selbst in München nicht alle Tage erleben.

Rüdiger Schwarz

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