Zum Konzert am 15. Februar 1986 in Berlin


Der Tagesspiegel, Berlin, 18. Februar 1986

Drei persönliche Bekenntnisse

Die Philharmoniker mit Gary Bertini

Der geheimnisvolle Bote, der bei Mozart das "Requiem" bestellte, war ein Sonderfall. Geistliche Musik geht meist auf Anträge von Kirchengemeinden zurück. Seine c-Moll-Messe KV 427 komponierte Mozart 1782/83 dagegen aus freien Stücken, denn nachdem er im Jahre 1781 Salzburg verlassen hatte, war er zu Kompositionen von Kirchenmusik nicht mehr verpflichtet. Mit einem Gelübde hatte sich Mozart diese Arbeit selbst auferlegt, nachdem Constanze, seine zukünftige Frau, erkrankt war. Ebenfalls aus eigenem Antrieb legte Igor Strawinski 1930 seiner "Psalmensymphonie" Bibeltexte zugrunde; Serge Kussewitzky, der Auftraggeber, hatte bei ihm lediglich ein größeres symphonisches Werk bestellt. Arnold Schönberg schließlich komponierte 1947 sein Melodram "Ein Überlebender aus Warschau" Opus 46 ohne jeden Auftrag als spontanen Ausdruck der Solidarität mit verfolgten jüdischen Glaubensgenossen. In allen drei Fällen entstand aus dem persönlichen Bekenntnis eine liturgisch ungebundene geistliche Musik von höchstem künsterischen Rang.

Den ursprünglich russisch textierten Schlußsatz "Laudate dominum", mit dem Strawinski die Arbeit an seiner "Psalmensymphonie" begann, komponierte er, nachdem er einen russischen Kinderchor gehört hatte. Gary Bertini, der selbst aus Rußland stammt, akzentuierte in seiner unerbittlichen motorischen Interpretation die strenge Gesetzlichkeit der russisch-orthodoxen Liturgie. Ähnlich kühl dirigierte er auch die am Vorbild Johann Sebastian Bachs inspirierte Doppelfuge im Mittelsatz, die in ihrer Kontrapunktik zur blockhaften Statik der Ecksätze kontrastiert. Der rhythmischen Genauigkeit standen jedoch meist überzogene Tempi gegenüber, denen der Chor der St.-Hedwigs-Kathedrale zunächst nur zögernd folgte. Vor allem dem berühmten "Laudate dominum" mit seinem glockenartigen Baßostinato fehlte wegen Bertinis Abweichungen von Strawinskis Vorschriften die hier notwendige innere Ruhe. Schönbergs Melodram, dem ein Bericht über Nazi-Verbrechen im Warschauer Getto zugrunde liegt, ist nicht nur ein gelungenes Beispiel für geistliche Musik, sondern vor allem ein künstlerisches Mahnmal zur Zeitgeschichte. Dies ist auch der Grund, daß es zu Schönbergs meistaufgeführten Werken gehört. Bei der jetzigen Aufführung sprach mit höchster Intensität Dietrich Fischer-Dieskau den sonst englischen Text in einer deutschen Übersetzung von Ken Bartlett. Der Darstellung von Angst und Schmerz stellte er in brüllendem Ton die Befehle des deutschen Feldwebels entgegen und sang schließlich zum Zeichen seiner Anteilnahme den Männerchor "Schema Yisroel" mit, in den die Zwölftonkomposition mit großer Steigerung einmündet. Eine Interpretation mit bekenntnishaftem Charakter, die niemanden unberührt lassen konnte. Starker, anhaltender Beifall.

Die großartige c-Moll-Messe, in der Mozart, wie Strawinski durch Partituren von Bach und Händel inspiriert, über sich und seine Zeit hinauswuchs, gestaltete Bertini mit wiederum kühnen Temposteigerungen zu einem expressiven Werk von erstaunlicher Modernität. Während die perfekte Leichtigkeit und Lockerheit von Sylvia Greenberg (Sopran) und Hans-Peter Blochwitz (Tenor) eher der traditionellen Auffassung des Mozart-Stils entsprachen, kam die in allen Lagen kraftvolle, aber auch in den Koloraturen bewegliche Mezzosopranstimme Julia Varadys der Interpretation Bertinis am meisten entgegen. Dietrich Fischer-Dieskau ergänzte im abschließenden "Benedictus" seine drei Vokalpartner zu einem sehr schön verschmelzenden Solistenquartett. Da auch der Hedwigs-Chor und das Berliner Philharmonische Orchester den Intentionen des Dirigenten sehr genau folgten, ergab sich eine Mozart-Interpretation von beeindruckender Geschlossenheit.

Albrecht Dümling

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