Zum Liederabend am 24. April 1986 in Freiburg


  

     Badische Zeitung, 26. April 1986     

Endstation Eis

Dietrich Fischer-Dieskau mit der "Winterreise" in Freiburg

     

"Liedhaftes" kommt zweimal auf, Liedgesang im Sinne von angedeutetem Belcanto, von Sich-der-Melodie-Anvertrauen: im "Lindenbaum" und im "Frühlingstraum". Zweimal sind’s Träume vom Einst, die für kurze Zeit Reste von gesungener Beseligung wecken. Da sind in der gelegentlich immer noch wie entmaterialisierten Höhe Anklänge an jenen Dietrich Fischer-Dieskau, der auch einmal durch die reine Verzücktheit, die lautere Emphase überreden, sich dem überwältigt-überwältigenden Strömen der Stimme überlassen konnte. Das kann, das will er, klug wie er ist, in dieser "Winterreise" gar nicht mehr.

Dieser Schubert-Abend bei den Freibuger Albert-Konzerten im Paulussaal strebt ganz anderes an. Da singt tatsächlich einer vom "Winter, kalt und wild", einer, der "zu Ende mit allen Träumen" ist, "ohne Ruh’" aufs Aus zielt. Zwar fehlte, wer anfangs mutmaßte, die nun doch unüberhörbare Reduzierung, ja die besorgniserregende Brüchigkeit der Stimme werden zum Einfangen der Brüchigkeit dieser "Winterreisen"-Existenz überm Eis genutzt – im Gegenteil, Fischer-Dieskau sang um so überzeugender, gelegentlich auch um so schöner, technisch problemfreier, je grausiger sich diese Liederfahrt aufs Nichts, auf die totale Leere zubewegte.

Vision vom Einst

Anfangs klingt – Tageskonstitution? – einiges wie im Parlando, wie beiläufig "erzählt", wie unterspielt, bisweilen eigentlich fast gar nicht mehr gesungen. Mehr denn je scheint es diesem bald 61jährigen darauf anzukommen, nicht als Stimmbesitzer betrachtet zu werden, sondern als Gesangskünstler. Wohllaut, Schönheit des Tons, Linie, Melodiebögen – das sind Dinge, um die Fischer-Dieskau sich unterdessen nicht mehr schert. Mitunter ist es, als sei die Vision vom Einst auch die Vision der vokalen Makellosigkeit von ehedem – der Sänger, ein Winterreisender selbst.

Wer auf Schuberts Phrasierung schwört, wer der reinen Gesangslehre anhängt – für den ist diese "Winterreise" die pure Geisterbahn. Fischer-Dieskau singt heute Schubert, wie Glenn Gould Mozart spielte oder Gilels in der äußersten Zuspitzung Beethoven. Ein Schubert-Extremist, der die Liedgebilde auf- und zerbricht und sie in einer radikalen Kunstanstrengung wieder zusammensetzt. Er verfolgt die Tempo-Dialektik bis an die Grenze. Er hält inne, ja an, und er enteilt jählings. Nach Jahrzehnten des immer wieder überprüften, immer wieder variierten, suchenden Umgangs mit den Liedern verfährt er nun ganz frei mit ihnen, verfügt er ganz souverän über sie, manchmal den Eindruck erweckend, als sei der Nachschöpfungsakt der Schöpfungsakt selber – eine momentane Launenhaftigkeit, die den genialischen Interpreten in Wahrheit zum kreativen Partner des Komponisten macht. Weiter geht’s nicht.

Gewalt–Optimismus

Und weiter geht’s im desillusionierten Marsch aufs Crescendo-Grauen des "Leiermanns" auch nicht. "Lustig in die Welt hinein": Furchtbarer unterhöhlt wirkte dieser allerletzte Gewalt-Optimismus selten. "... wie müd’ ich bin": Weit vorher schon hatten Haltung und Einfärbung der Stimme signalisiert, wohin die Reise in Wahrheit geht. Auch in diesem Augenblick, diesen wenigen Sekunden, in denen Fischer-Dieskau mehr "sagt" als intaktere Sänger in ganzen Szenen, scheint er darauf hinzudeuten, daß eine Stimme zu mehr da ist, als sich in ihrem eigenen Glanz zu sonnen. Ein Entwurzelter auf dem Weg zur Endstation – Fischer-Dieskau konterfeit ihn zwischen Flüstern und schroffem Ausbruch. Wollte man’s manieristisch nennen – man untertriebe rettungslos. Gesang, nicht als Verlautbarung vokalen Naturburschentums, sondern eben als Kunstvorgang.

Hartmut Höll hat Fischer-Dieskaus Umarmung beim Applaus verdient. Er war ihm wie ein Schatten gefolgt, auch wo es angesichts mancher Augenblicks-Entscheidung, mancher Spontan-Inspiration nicht leicht war. Dennoch, er formte Stimmungen mit aus, kündigte sie gar präludierend an. Spannungsvolle Partnerschaft, ein wesentlicher Bestandteil eines Abends, an dem der eine oder andere – und der Rezensent zählt sich zeitweise dazu – gedacht haben mag, nun stoße die Interpreten-Willkür denn doch an die Schallmauer, und der doch, denkt man an ihn zurück, nur eines war: grandios.

Heinz W. Koch

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