Zum Liederabend am 26. Juni 1986 in Feldkirch


    

     Neue Vorarlberger Tageszeitung, 28. Juni 1986     

Liedgesang im Adelsstand

Der Bariton Fischer-Dieskau bei der Schubertiade

     

Mit besonderer Spannung erwarten die Freunde der "Schubertiade" die alljährlichen Liederabende des bekannten deutschen Baritons Dietrich Fischer-Dieskau. Nicht zu unrecht, denn diese Abende wurden bisher noch allemal zu ganz besonderen Erlebnissen von enormer künstlerischer Tragweite und Aussage. So auch diesmal, als der Sänger gemeinsam mit dem deutschen Pianisten Christoph Eschenbach am Donnerstag in der fast ausverkauften Feldkircher Stadthalle einen Liederabend mit Werken aus Schuberts letzten Lebensjahren gestaltete.

Das ist der wohl immer wieder faszinierendste Aspekt bei den Liederabenden Fischer-Dieskaus: Wie er es versteht, kraft seiner Persönlichkeit auch oftmals abgespielte und vielgehörte Lieder völlig neu aufzubereiten und ihnen ungewöhnliche Dimensionen zu geben. Beispiele diesmal etwa "Im Frühling", "An Silvia" oder "Die Taubenpost". Die geistige Erfassung der Textinhalte und ihre Umsetzung in die Interpretation stehen bei diesem Sänger, wie man weiß, gleichwertig neben der musikalischen Gestaltung. Diese faszinierende Kombination macht Fischer-Dieskau für das breite Publikum im Vergleich etwa zu seinem Konkurrenten Hermann Prey, zwar zu einem manchmal allzu intellektuell betonten Sänger.

Wer sich aber einmal auf ihn eingehört hat, der schwört auf Dietrich Fischer-Dieskau, der sozusagen den Liedgesang in den Adelsstand erhoben hat. Er ist mit seinen 61 Jahren längst der Grandseigneur unter den deutschsprachigen Liedgestaltern, untadelig in seinem Auftreten wie in der absoluten Kontrolle seines Stimmaterials, das durch die leicht herbstliche Tönung eigentlich nur an Klangfarben gewonnen hat.

Seine 18 Lieder aus den letzten Lebensjahren Schuberts hat Fischer-Dieskau für diesen Abend sehr sorgfältig ausgewählt und einander in klugem dramaturgischen Aufbau gegenübergestellt. Viele von ihnen tragen den Grauschleier der Todesahnung in sich, in manchen wieder dokumentiert sich gerade in der Interpretation dieses großen Sängers der sich aufbäumende Lebenswille des Komponisten. Der deutsche Pianist und Dirigent Christoph Eschenbach am Klavier, den man erst kürzlich im Bregenzer Festspielhaus im Klavierduo zusammen mit Justus Frantz erlebt hatte, gestaltete sehr feinsinnig mit und hatte nur in "Des Sängers Habe" zwei schlimme Ausrutscher.

Er würde, so äußerte sich Fischer-Dieskau im Vorjahr, am liebsten die ganze Feldkircher Stadthalle samt ihrer hervorragenden Akustik und samt ihrem liebenswerten "Schubertiade"-Publikum mit auf seine Tourneen nehmen. Der Sänger dürfte seine Meinung auch nach dem heurigen Liederabend nicht geändert haben: Es gab rund eine halbe Stunde lang standing ovations und Zugabe um Zugabe. Und entsprechend vieldeutig-herzlich fiel auch das allerletzte seiner Lieder als 5. Zugabe aus: "Abschied", mit den wehmütigen Textzeilen "Ade! Du muntre, du fröhliche Stadt..."

Fritz Jurmann

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      Vorarlberger Nachrichten,  28. Juni 1986     

Schubertiade: Dietrich Fischer-Dieskau und Christoph Eschenbach

"Denn der Dichter lebt vom Sein"

   

Dieses "rechte Wort" aus "Heliopolis" II, dem ersten der von Fischer-Dieskau an diesem Abend vorgetragenen Gesänge, in dem sich der befreundete Dichter J. Mayrhofer direkt an Schubert zu wenden scheint, könnte als Motto des gesamten Liederabends verstanden werden. Eine großartig ausbalancierte Programmgestaltung rückte Schuberts Lieder der letzten Schaffensjahre in den Vordergrund und wirkte also auch im Hinblick auf die Werkbetrachtung – wie das bei Fischer-Dieskau ja dazugehört – faszinierend informativ.

Neben musikalisch augenfälligen Grundzügen der späten Lieder, wie z.B. die Veränderung des Klaviersatzes ins graphisch Lineare oder motorische Bewegungen, so scheint eine wichtige geistige Dimension die Mehrzahl der Lieder trotz aller inhaltlichen Vielfalt zu verbinden. Und das ist die angestrebte Gelassenheit, Ergebenheit, ein mitunter noch leicht schmerzendes Einverstandensein, insgesamt Lebensbewältigungen aus reifer Sicht. Als Beispiele dafür können besonders "Abendstern", "Das Zügenglöcklein", "Im Frühling", "Der Kreuzzug", "Des Fischers Liebesglück" und "Der Winterabend" gelten.

Lieder, die menschliche Ergebenheit und Reife beschwören, wer könnte sie geistig transparenter, gelassener und doch minuziöser ausdrücken als Dietrich Fischer-Dieskau? Hier ergibt sich der Glücksfall, daß ein reifer Interpret reifen musikalisch-dichterischen Aussagen kongenial gegenübersteht. Davor schwindet die Forderung des schon so oft zitierten "Schöngesangs". Ja, überhaupt die gesamte Exklusivität eines immer so leidvoll akzeptierten sängerischen Habitus fällt weg. Denn wer imstande ist, den Menschen aus der abgeschiedenen historischen Vergangenheit oft in allen Fasern als spürbares eigengesetzliches Leben wiederzugeben (z.B. in zwei der Zugaben "Der Einsame" oder "Ade, du muntre Stadt"), braucht ein solcher Sänger nicht alle erdenklichen Mittel der natürlichen, aber facettenhaft differenzierten Tongebung, um so weit zu gelangen? Diese Schönheit ist eine viel umfassendere als die geläufige, meist kunstvoll aufpolierte Gesangsästhetik.

Fischer-Dieskaus Partner am Klavier war Christoph Eschenbach, ein großer Pianist, Dirigent und, wie sich herausstellte, ein großer Liedbegleiter. Sein ins Feinste differenzierter Klang traf sich deckungsgleich mit Fischer-Dieskaus Ambitionen, sein emphatisches Zeitgespür und vor allem seine melodische Rhetorik in Vor-, Zwischen- und Nachspielen schafften ein Ineinandergreifen von Intensitäten, das ein begeistertes Publikum in der ausverkauften Feldkircher Stadthalle immer wieder fesselte.

Mit metallischer, dramatisch pointierter Stimme unter brodelnden Klavierfiguren brachte der Sänger das erste Lied, "Heliopolis" II, zu Gehör. Es folgte der "Abendstern", ebenfalls nach Mayrhofer, beglückend, besinnlich, mit einem sensibel fragenden Vorspiel höchster Intensität. Als nächstes das bekannte Lied "Nacht und Träume". Vor solcher Art mystischer Versenkung, intimster Dialoge zwischen Mensch und Natur wirken alle beschreibenden Worte stumpf. Hier war besonders gut zu beobachten, daß Fischer-Dieskaus "Ausdrucksatmen" nur diese Ökonomie und Aussagekraft ermöglichte. "Des Sängers Habe", verspielt, materielos in natürlichem Parlando-Stil vorgetragen, wirkte fast zu flüchtig, woran einige Unsicherheiten im Klavierspiel wohl Anteil hatten. Was soll’s bei dieser Gesamtqualität?

Im nächsten Lied "Auf der Bruck", nach E. Schulze, gefiel besonders ein vehementes, durchgetragenes Pulsieren, auch aufgrund einer tollen Baßartikulation im Klavier. Sei noch das letzte des ersten Teils erwähnt: "Im Frühling". Leichtigkeit, Schwerelosigkeit – um die Kontraste des Leidvollen greifbar dagegenzusetzen – ist hier, gepaart mit Gefühlstiefe, distanzierter Beschaulichkeit; frühromantischer Geist in Vollkommenheit, das Leben als "Traum".

Der zweite Teil mit vielen weiteren Zugaben würde inhaltlich eine Steigerung darstellen, wenn eine solche möglich wäre. Formal und inhaltlich besonders beeindruckend waren vielleicht "Der Kreuzzug", wunderbar versonnen in seiner melodischen Empfindsamkeit, oder "Des Fischers Liebesglück" in seiner tiefen strophischen Abgerundetheit. Großartig zu intensivem Leben erweckt wurde das kostbare Lied "Herbst", nach L. Rellstab. Die beiden Zugaben "Der Einsame" und "Ade, du muntre Stadt", zwei von vielen, die unter frenetischem Beifall gefordert wurden, waren unnachahmlich in den feinsten menschlichen Nuancierungen, zeigten jedoch auch, daß der intime Rahmen für solche "hautnahen" Darstellungen in der Interpretation Fischer-Dieskaus in Stadthallengrößenordnung bereits gefährdet ist. Übrigens, was letztere Zugabe "Ade, du muntre Stadt" betrifft: Charmanter und souveräner kann man sich einem enthusiastischen Publikum nicht entziehen!

Hans-Udo Kreuels

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