Zur Liedermatinee am 20. Juli 1986 in München


    

     Süddeutsche Zeitung vom 21. Juli 1986     

MÜNCHNER OPERNFESTSPIELE

Seelenroman aus späten Liedern

Dietrich Fischer-Dieskaus Schubert-Matinee im Nationaltheater

   

Ob Schubert geahnt hat, daß er so früh sterben muß? Eine solche Frage ist spekulativ, zudem ein wenig vorlaut. Und sie ist natürlich exakt unbeantwortbar. Aber gleichwohl unabweisbar. Denn treten nicht in den Texten und Kompositionen des "späten" Schubert (er starb 31jährig) der Tod, eine tief melancholische Dunkelheit des Gefühls und ein jenseitiger, immaterieller, träumerich ferner Ton überwältigend deutlich hervor? Wenn man so konzentriert zuhörte, wie Fischer-Dieskau und sein höchst sensibel korrespondierender Klavier-Partner Christoph Eschenbach ihre Schubert-Matinee (sie trug sogar einen Titel: "Die letzten Jahre") darboten, dann entstand wirklich so etwas wie ein höchst persönlicher Seelenroman. Schuberts Lieder zielen eben nicht bloß ins Allgemeine. Oft genug verbirgt sich in ihnen eine individuell konkrete Antwort auf eine spezifische Lebenssituation. Das Programm begann nicht mit einer Anrufung der Muse, sondern mit einem Heliopolis-Text des eher verschlossen-misanthropischen Schubertschen Zimmergenossen Mayrhofer. Darin steckt eine Bitte des älteren Freundes an Franz: "Laß die Leidenschaften sausen / Im metallenen Akkord / Wenn die starken Stürme brausen / Findest du das rechte Wort". Im nächsten, dem "Abendstern"-Lied (1824) wird der Rückzug von der Welt begründet: "Und bleibe trauernd still daheim". Dann geht es um Liebes-Erinnerung und Kunst-Trost. Im "Zügenglöcklein"-Lied von 1826 (leider half bei diesem schwierigen Programm überhaupt kein erklärender Programmheft-Beistand – das Zügenglöcklein ist das "Totenglöcklein") werden, zu melancholischer Ländlermusik, Erwägungen darüber angestellt, wem wohl die Totenglocke läuten sollte, und wem doch lieber noch nicht ...

So gab beinahe jedes Lied eine ausformulierte Antwort auf Fragen der Todesnähe, der Liebeswirklichkeit, der sanften Ergebung. Die Folge war so angeordnet, daß die Zuversicht, wie verhangen auch immer, eher zunahm. Vorbei die schlimmste Einsamkeit: "Die Trauerzeit ist um" ("Am Fenster", 1826). Selige Zukunftserwartungen ("Die Sterne", aus dem Todesjahr 1828).

Dieses enorm komplizierte Programm, geboten vor einem diszipliniert und still zuhörenden, dann in Ovationen ausbrechenden Publikum, bewältigte Fischer-Dieskau mit seinem nach wie vor unvergleichlich beredten, empfindsam ausdeutenden Pianissimo. Ein Adagio-Lied wie "Nacht und Träume", aber auch eine aus sechs verschiedenen Tonfällen bestehende Quasi-Szene wie "Alinde", ein germanisch-vernebeltes, transzendentales Stimmungswunder wie "Des Fischers Liebesglück", dergleichen gestaltet er, wie es sonst niemand kann. Da ist der Sänger allein auf der Welt.

Aber er gibt sich mit differenzierten oder zarten Traum-Wirkungen nicht zufrieden. Er suchte nicht nach dem sicheren Erfolg, sondern unterwarf alles dem riskanten Seelenroman-Programm. Das heißt, er fing um der Sache willen mit einem Fortissimo-Lied an, wo ihm denn im Ausbruch die Stimme doch nicht perfekt gehorchte. Um den inneren Zusammenhang zu wahren, ließen die Künstler auch fast alle Lieder gleichsam ineinander übergehen. (Damit die Leute nicht zwischendurch husten oder den Faden verlieren.)

Aber das ist wegen des Gewichts der Lieder unklug. Man kann nicht, wenn ein inhaltsreiches Mysterium dem anderen – ich wähle das schiefe Bild bewußt – auf dem Fuße folgt, ja auf die Füße tritt, so rasch umschalten. Da müßte jedes Lied lange ausschwingen dürfen, riesigen Nachhall haben. Wir stehen ja nicht einem Potpourri hübscher Melodien gegenüber, sondern lauter bedenkenswerten Bekenntnissen.

Eschenbach spielte hochmusikalisch, verlor sich nicht in Einzelheiten, sondern faßte bei aller Differenziertheit souverän zusammen. Nur die allerdings in der Tat aberwitzig wilde Rastlosigkeit von "Auf der Bruck" ließ ihn an die Grenzen seiner Technik geraten. Da müßte die Rechte rasende Motorik bieten und doch keinen Durchgang überspielen, müßte die (bei Eschenbach ohnehin manchmnal etwas zu schwache) Linke zumindest "Erlkönig"-Brillanz bewähren in stürmisch verzweifeltem Querfeldein. Von alledem erklang nur ein, immer noch beeindruckender, Teil. Auch Fischer-Dieskau hatte mit den Riesen-Intervallen des Liedes manchmal Müh’ und Not. Schade, daß der süßmelodische Anfang von "Der Wanderer an den Mond" gleich danach unvermeidlich unkonzentriert ertönte, wie wenn das Vorhergehende eilig weggewischt werden müßte.

Aber das sind unerhebliche Einzelheiten. Ein sorgfältig durchdachtes Programm und gleichermaßen sorgfältig durchdachte Kunst führten an diesem Sonntagvormittag zum eigentlich höchsten Ziel aller Interpretation: daß man nicht mehr ihrer gedachte, sondern die interpretierten Werke bestaunte.

Joachim Kaiser

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     Münchner Merkur vom 21. Juli 1986     

Resignativer Ton von Tod und Abschied

Zu Dietrich Fischer-Dieskaus Liedermatinee in der Münchner Staatsoper

   

Nach vierzig aktiven Jahren ist Dietrich Fischer-Dieskaus Name inzwischen Legende, auch wenn die sängerische Wirklichkeit dem heute nicht mehr voll gerecht wird. Verschleiß-Erscheinungen sind evident. Die Stimme ist flacher geworden, die Intonation nicht in allen Bereichen sicher. Indessen aber gibt es einen Grad interpretatorischer Durchdringung, ab dem solche handwerklichen Dinge sekundär werden, und den hat Dieskau seit langem schon erreicht. Insofern waren das hoffnungslos ausverkaufte Münchner Nationaltheater, der schier beängstigende Jubel nur allzu berechtigt.

Mit Franz Schubert hat Fischer-Dieskau sich auseinandergesetzt, solange er singt – die ersten Schallplatten erschienen knapp nach der Währungsreform. Er hat Einspielung auf Einspielung folgen lassen; und er hat, mit zunehmendem Alter rascher, die Pianisten gewechselt. Was allein schon dokumentieren mag, daß seine Interpretationen keine statischen Größen sind. Sie wandelten sich von Mal zu Mal, gerieten mitunter auch auf manieristische Abwege, haben jetzt aber ein Stadium der Alters-Reife angenommen, dem man Endgültigkeit zusprechen darf.

Auffallend in den letzten Jahren ist die zunehmende Ökonomie der Mittel, das Zurücknehmen der früher oft überzogenen Dynamik zugunsten der ruhigeren musikalischen Linie. Das Ergebnis, vor allem im zweiten Teil dieses Sonntagmorgen-Programms, ist von schier einschüchternder Wirkung.

Dieskau hatte es unter das Motto gestellt "Die letzten Jahre". Es sind Lieder, denen ein resignativer Ton der Trauer und des Abschiednehmens gemeinsam ist. Wobei Schuberts Empfindungs-Welt aber vermutlich Gewalt angetan wird, wenn man so tut, als ergäbe eine durchgehende Grundstimmung alleine schon so etwas wie einen Zyklus, eine musikalisch logische Abfolge. Eher das Gegenteil ist der Fall. Jedes Lied, auch die zwei des "Schwanengesang", ist ein autonomes Kunstwerk und braucht als solches Rahmen und Abstand. Da verhält es sich wie mit Bildern: sie wollen einzeln betrachtet werden.

Man tut Fischer-Dieskau Unrecht, wenn man einzelnes herausgreift. Anzumerken aber, daß seine Intentionen von dem Klavierpartner Christoph Eschenbach nicht in allen Fällen optimal realisiert werden. "Im Frühling" beispielsweise spielt er durchgehend zu rasch, ohne die zurückhorchende Verzögerung; der meditative Gleichschritt des "Wanderer an den Mond" wird einer eher forschen Gangart geopfert, der graziöse Barcarolen-Charakter bei "Des Fischers Liebesglück" nicht getroffen. Dem Gesamteindruck aber tut’s wenig Abbruch.

Michael Müller

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