Zum Liederabend am 16. September 1986 in Berlin   


     Der Tagesspiegel Berlin, 18. September 1986     

Goethes Zerrissenheit

Dietrich Fischer-Dieskau sang Hugo Wolf

     

In den Wintermonaten 1888/89 komponierte Hugo Wolf in einem einzigen großen Schaffensrausch nicht weniger als 51 Lieder nach Gedichten von Johann Wolfgang von Goethe. Wie schon zuvor mit seinen Eichendorff- und Mörike-Liedern zeichnete er damit ein Porträt des Dichters, wobei sich sein Goethe-Bild durch scharfe innere Gegensätze vom Gewohnten und Populären abhebt. Wolf war gerade an den Extremen des Ausdrucks interessiert und hielt in dieser Hinsicht die Goethe-Lieder Schuberts für unzureichend. Auch mit seiner Neuvertonung der "Gesänge des Harfners" aus dem "Wilhelm Meister" wollte er Schubert an Deutlichkeit und Schärfe des Leidensausdrucks übertreffen.

Dietrich Fischer-Dieskau und Hartmut Höll begannen ihren Wolf-Liederabend in der Deutschen Oper mit gerade jenen ernsten Harfner-Gesängen. Eine düster realistische Atmosphäre kam auf, als der Sänger nach dem Trauermarschvorspiel das Lied des Einsamen, der sich nach dem Tod sehnt, anstimmte, als er die auch heute wieder aktuelle Klage des obdachlosen Bettlers ("An die Türen will ich schleichen"), der nur durch Unterwürfigkeit Mitleid erregt, ertönen ließ, als er sich schließlich zu der bitteren Anklage steigerte: "Ihr laßt den Armen schuldig werden, dann überlaßt ihr ihn der Pein."

Diesen Gesängen der unverblünten Sozialkritik folgte im herben Kontrast eine Gruppe leichtfüßiger, blumengeschmückter Frühlingslieder, bei denen der zuvor auf einstimmige Baßlinien konzentrierte Hartmut Höll helle, silbrige Farben im Klavierdiskant hervorzauberte. Die vorher noch angeklagten himmlischen Mächte wurden in "Ganymed" nun jubelnd besungen. Wie unwirklich und brüchig dieser Frühlingsjubel jedoch war, ging nicht allein aus Fischer-Dieskaus Pianissimo-Gesang hervor, sondern auch aus dem Hustenschwall des Publikums, der danach einsetzte. Dietrich Fischer-Dieskau kommentiert Lieder und Gedichte durch Gegenüberstellungen und entdeckt in genauer Lektüre Feinheiten, die dem flüchtigen Leser entgehen. Beim "Blumengruß" vermischte er beim Bekenntnis, daß er den Strauß schon "hunderttausendmal ... ans Herz gedrücket", Liebeshoffnung mit leisem Entsetzen: ist damit der Strauß nicht schon längst verwelkt? Beim tragikomischen Lied "Der Schäfer" verwandelte er seine Leidensmiene in einverständiges Schmunzeln und ließ zum Schluß das gedehnte Wort "Schlaf" bruchlos ins Gähnen übergehen. Die Wendung "Und ich war galant" im "Neuen Amadis", vor allem aber das "Gelegentlich ein Mädchenfänger" im "Rattenfänger", sang er mit einer so raffinierten Mischung von Distanz und ironischer Identifikation in das bis auf den letzten Platz besetzte Auditorium hinein, daß – als Probe aufs Exempel – heftiger Applaus die unfehlbare Folge war.

Goethes faustische Zerrissenheit zwischen demütiger Unterordnung und rebellierendem Selbstbewußtsein verdeutlichte Dietrich Fischer-Dieskau durch die Gegenüberstellung der beiden großen, auch formal meisterhaft disponierten Gesänge "Grenzen der Menschheit" und "Prometheus". Der Gegensatz war riesig: während "Grenzen der Menschheit" choralhaft und mystisch fast nur im Pianissimo verblieb, reckte sich "Prometheus" in Umfang und Dynamik zu einer Größe empor, die alle Grenzen zu sprengen schien. Dietrich Fischer-Dieskau, der jedes Lied zu einer realistischen Szene gestaltet, pflanzte sich hierbei so wuchtig vor dem Flügel auf und entfaltete eine so mächtige Stimmgewalt, daß er damit zugleich die Überforderung anzeigte, die die Kampfansage an die Götter für den Menschen darstellt. Auch Hartmut Höll bewegte sich mit seinem schweren orchestralen Klavierpart an den dynamischen Grenzen des Instruments.

Nachdem die Gesänge "Genialisch Treiben" und "Kophtisches Lied 1 und 2" die Gegensätzlichkeit des Lebens als närrisches Auf und Ab, als ständigen Wechsel erklärt und relativiert hatten, wurden beide Künstler mit einem wahren Beifalls- und Blumenregen überschüttet. Nach der Zugabe von zwei Goethe-Liedern ("Ob der Koran" und "Phänomen") setzte Fischer-Dieskau mit "Nicht länger kann ich singen" aus dem "Italienischen Liederbuch" einen sehr bestimmt beginnenden, dann aber schalkhaft endenden Schlußpunkt.

Albrecht Dümling

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     Berliner Morgenpost, Datum unbekannt     

Fischer-Dieskau in Hugo Wolfs depressiver Welt

   

Die Spannweite von Hugo Wolfs zur faszinierenden romantischen Liedschöpfung gewordenen pathologischen Innenwelt reicht von grausiger Einsamkeit über zu Todessehnsucht getriebener Nervosität, Angstvorstellungen bis hin zum derben Humor, bissigem Spott und grenzenloser Selbstüberschätzung. Es gibt heute nur wenige Interpreten, die diese spröde gespenstige Welt Hugo Wolfs geistig durchmessen und adäquat wiedergeben können. Insofern verwunderte es nicht, daß der dritte Liederabend Dietrich Fischer-Dieskaus in der Deutschen Oper Berlin mit Wolfs "Goethe-Liedern" ausverkauft war und dem Sänger sowie seinem vorzüglichen Pianisten Hartmut Höll schließlich neben begeistertem Applaus ein Meer von Blumen einbrachte.

Bereits mit dem ersten der drei Harfner-Gesänge aus "Wilhelm Meister" war die Grundstimmung der Goethe-Lieder vorgegeben. Fischer-Dieskau als Meister der detaillierten Wortgestaltung wußte, wie er "Tränen", "Einsamkeit" und "Pein" mit aufbegehrender und sofort wieder zurückgenommener Stimme musikalisch zu bestürzend unheimlichen Begriffen formte.

Mit dem dämonischen "Rattenfänger" schuf sich Dieskau einen blendenden Pausenabgang. Die "Prometheus"-Dichtung im zweiten Teil wurde von Dieskau zu einem wilden Psychogramm hybriden Menschseins gestaltet und glich fast schon einer Bühnenszene.

R. L.

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