Zur Matinee am 21. September 1986 in Berlin


     Der Tagesspiegel Berlin, 23. September 1986     

Zeit und Ewigkeit

Dietrich Fischer-Dieskau mit Aribert Reimann

     

Lyrik der Schwermut, der Ahnung, des Traums, Musik der determinierten Strenge: der frühreife Dichter Hugo von Hofmannsthal und der Komponist Wolfgang Fortner, der 1964 die "Terzinen" vertonte, sprechen verschiedene Sprachen. Es entsteht eine zwar eigenartige, aber letztlich nicht überzeugende Reibung, wenn der Konstruktivist von "kleinen Mädchen" singt, "die sehr blaß aussehn". Seltsam, daß die Komposition der Hofmannsthalschen Vergänglichkeitsklage am ehesten beredt wird, wo sie sich in ihr absolutes Reich der Vor- und Zwischenspiele begibt. "Wir sind aus solchem Zeug wie das zu Träumen": es liegt nahe, daß der Sänger Dietrich Fischer-Dieskau versucht, die Traumsphäre in die Konstruktion einzulassen. Fortners "Terzinen" sind den Interpreten Dietrich Fischer-Dieskau und Aribert Reimann gewidmet, die mit diesem Zyklus eine Festwochen-Matinee zeitgenössischer Musik im Großen Sendesaal des SFB eröffneten. Reimann, als Pianist in ausgezeichneter Form, entsprach den Anforderungen der Stücke mit glasklarer Poesie.

Fischer-Dieskau ist auch Widmungsträger der Kompositionen, die im Programm folgten. Das Widmungsdatum seines 60. Geburtstages tragen die "Tre Poemi di Michelangelo" von Aribert Reimann. In geheimnisvollem Beziehungsgeflecht, überschaubar in der Form, trägt das Stück Zeichen von Innerlichkeit wie expressivem Rezitativ, Ichbezogenheit wie zeitenumspannender Weite. Reimanns Affinität zu der Lyrik des Renaissance-Künstlers, die in dieser Gedichtfolge um eine den Alternden treffende Liebe und Hoffnung auf Erlösung kreist, äußert sich nicht nur in der Deklamation des Einzelworts, sondern auch in der kompositorischen Einfühlung in die Welt, in der Michelangelo lebte. So wird die lastende Klage des ersten der drei Gesänge "Im Dunkel bleibe glühend ich allein" von vierstimmigem Klaviersatz, der im zweiten und im dritten Stück wiederkehrt, begleitet, werden Wörter wie "Mali" und "Fiori" mit madrigalesken Figurationen herausgehoben. Und doch – eine Musik ganz von heute, bezogen auf den Interpreten, für den sie gschrieben wurde, dem sie sein grüblerisches Solo "Was wird aus mir?" läßt, seine Ausdruckskunst, die der Klavierpart gleichsam fortsetzt oder auch, sparsam, asketisch, einstimmig trägt. Während das mittlere Lied der drei "Poemi" schon uraufgeführt worden war, nämlich 1985 zum Geschäftsjubiläum der Musikalienhandlung Hans Riedel, erklangen die beiden kürzeren Rahmenstücke in diesem Festwochen-Konzert zum erstenmal. Die Uraufführung des zirka 15minütigen Gesamtzyklus wurde mit großem Beifall aufgenommen.

Eine späte Berliner Erstaufführung war nach der Pause zu erleben: "Songs and Proverbs of William Blake" Opus 74, die Benjamin Britten 1965 für Fischer-Dieskau schrieb. Das natürliche Fließen dieser kunstvoll zum Zyklus vereinigten Liederfolge auf Gedichte aus "Songs of Experience", "Auguries of Innocence" und "Proverbs of Hell", ausgewählt von Peter Pears, ergab weite Bögen der Intensität, da die Musik eher Steigerungsformen – "A Poison Tree" und "Every Night and Every Morn" – entwickelt als Einzelwörter der Gedankenlyrik illustriert. Dennoch hat sie Bilder genug: "The Chimney-Sweeper", "The Tyger" (Blakes meistzitiertes Gedicht), "The Fly". In der Tradition des romantischen Klavierlieds, das Britten selbst als Interpret mit Peter Pears liebevoll gepflegt hat, ist die Textgestaltung des Blake-Zyklus von neuartigem Reiz. Wer aber auch sonst kann mit solcher Sensibilität des Leisen von der in die Erzeugnisse der Zeit verliebten Ewigkeit singen wie Dietrich Fischer-Dieskau: "Eternity is in love with the productions of time."

Sybill Mahlke

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     Berliner Morgenpost,  23. September 1986     

Fischer-Dieskau singt über tiefe Einsamkeit

   

Die Düsternis der Alters-Melanchoilie wird gleich mit den ersten Akkorden des Klaviers ausgeleuchtet. Aribert Reimanns "Tre Poemi di Michelangelo" für Bariton und Klavier, als Zyklus im Rahmen der Festwochen im Sendesaal des SFB von Dietrich Fischer-Dieskau und dem Komponisten uraufgeführt, sind machtvolle Gesänge aus tiefer Einsamkeit.

Deklamationen der Singstimme, Einwürfe des Klaviers, eins entzündet sich am anderen. Die Begleitung gewinnt sich Eigenausdruck im Dienste der Monologe. Sie treibt den Sänger zu einer Ausdrucks-Hoheit und Ausdrucks-Variabilität auf engem Raum, wie sie nur Fischer-Dieskau zu ersingen vermag. Zu Recht ist ihm der Zyklus gewidmet, der allen Facettenreichtum der Stimme zu nutzen versteht. Diese musikalischen Gedichte (Reimann meidet die Bezeichnung "Lied" wie "Gesänge") sind im Grunde Selbstgespräche der Lebensverzweiflung, der Ausweglosigkeit, des Schmerzes, alle in wundervolle Strophen gefaßt.

Weite Versfolgen werden unbegleitet vorgetragen. Mitunter fallen ein paar Stütztöne ein, über denen sich die Stimme zu gewaltigen Aufschwüngen bäumt.

Zwischen den gesungenen Exklamationen stehen Klavierkommentare. Sie lösen neue Ergüsse der Singstimme: Vorwürfe gegen Himmel und Erde; Liebesbangen verschränkt sich dem Todesbangen. Reimann sieht in den Gedichten Michelangelos kein Kleinbeigeben, kein Verröcheln des Lebensatems, eher Kampflieder gegen all das Leid, gegen Kapitulation vor dem Ende.

Das trägt sich in grimmigen Anläufen vor, vollstimmig und herausfordernd herausgesungen wie in musikalischen Blöcken: Ein buchstäblich michelangelesker Zyklus, dem Fischer-Dieskau ein gestaltungsmächtiger Interpret war. Ihm und Reimann, dem glänzend mitgestaltenden Komponisten, galt herzlicher Beifall.


Spät ausgeliefertes Geschenk von Britten

Als deutsche Erstaufführung erstaunlicherweise standen die "Songs and Proverbs" im Programm, die Benjamin Britten 1965 auf Gedichte von William Blake für Fischer-Dieskau geschrieben hat. Anders als Wolfgang Fortner in seinen sperrig-unsinnlichen Hofmannsthal-Liedern, musikalischen Nadelkissen vergleichbar, mit denen das Konzert begann, verleugnet Britten keinen Augenblick seine Faszination von der Stimme.

Die Gedichte werden reich auskomponiert. Sie werden zu düsteren Liedern, die den Hörer beteiligen. Ein Lied wie das vom Schornsteinfeger sticht durch seine anrührende Geschlossenheit ebenso hervor wie die musikalische Zeichnung der Sprichworte. Der Zyklus gleicht einem spät ausgelieferten Geschenk. Es ist den Festwochen zu danken.

Klaus Geitel

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