Zum Liederabend am 6. Oktober 1986 in München  


     Münchner Abendzeitung, 8. Oktober 1986     

Meister der Einfühlung

Fischer-Dieskau sang

     

In seinem ersten Münchner Liederabend in dieser Saison sang Dietrich Fischer-Dieskau Lieder von Johannes Brahms. Am Klavier: Hartmut Höll (Herkules-Saal).

Ans Aufhören denkt der 61jährige Sänger wohl noch in keinem Moment. Seine Programme haben nicht den Anschein von "letzten Liederabenden", sie orientieren sich konzessionslos am Gesamtwerk des Komponisten, nicht etwa am Verlangen des Publikums nach Bekanntem und Beliebtem. So begnügte sich Fischer-Dieskau auch bei seinem Brahms-Abend nicht mit der Aneinanderreihung von hundertfach gesungenen, meist lyrischen Liedern, sondern er führte uns – in chronologischer Reihenfolge – den unbekannteren Brahms vor, den Schöpfer dramatischer, herber und spröder Gesänge, und er förderte damit so manchen wichtigen Beitrag zum romantischen Klavierlied zutage.

Wie immer sang Fischer-Dieskau dies alles mit einer Souveränität und Überlegenheit, die ihresgleichen sucht: ein Meister des Einfühlungsvermögens, der von den zartesten Empfindungen bis zur Aussage von Bedrängnis und Gespaltenheit noch immer alle Nuancen und Schattierungen in nahtloser Abstufung zu vermitteln weiß.

Für den stürmischen Applaus bedankte er sich mit fünf populären Zugaben, und selbst hier noch herrschte gespannte und konzentrierte Stille.

Rüdiger Schwarz


      

     Münchner Merkur, 8. Oktober 1986     

Mit "Herbstgefühl"

Fischer-Dieskau in Münchens Residenz

     

Vom "Wie rafft ich mich auf in der Nacht" bis hin zu den "Maienkätzchen", die er einst der Liebsten an den Hut steckte, schlängelte sich ein intelligent geknüpfter dramaturgischer Faden durch Dietrich Fischer-Dieskaus jüngsten Münchner Liederabend im vollbesetzten Herkulessaal. Ausgewählte Lieder von Johannes Brahms standen auf dem Programm des ersten Abends, den zweiten (am Freitag, 10. Oktober) bestreitet er mit Hugo Wolf.

Fischer-Dieskau, der exzellente und sensible Stilist bewegte sich bei den Brahms-Gesängen in einem jahreszeitlich wie emotional sich schließenden Kreis. In heftigem Staccato (natürlich mit souveränem Übergang ins Legato) ging er die bittere Anklage eines Unseligen an, schleuderte darauf sein "Wehe, so willst du mich wieder, hemmende Fessel, umfangen?" heraus und steigerte sich in jenes "Herbstgefühl", dessen Fahlheit Fischer-Dieskau und der bis zum Äußersten zurückweichende Hartmut Höll am Klavier so ergreifend zu gestalten wußten. Nur allmählich löste sich der Sänger aus der Tristesse, fand über die Erinnerung ("Abenddämmerung"), über die heftige Bitte ("Mein wundes Herz verlangt") in lichtere Regionen.

Nicht ohne einen Anflug von Ironie rührten Sänger und Pianist (der vor allem) die Trommel des Tambours in heiterer Siegesgewißheit und fanden so zu Heine und seinem "Es liebt sich so lieblich im Lenze".

Den widerstrebenden Gefühlen begegnet Fischer-Dieskau mit dynamischen Extremen, verliert dabei doch nie das Maß und kann sich überdies auf die aus gleicher Inspirationsquelle gespeiste, stets mit-interpretierende Begleitung Hölls verlassen. Der akzentuiert mit Witz ("Unüberwindlich"), gestaltet agogisch perfekt, läßt wie die Qualen ("Mondenschein") auch den Klaviersatz zerrinnen und leitet zuweilen quasi attacca mit dem Sänger über ins nächste Lied, das sich wie zwangsläufig aus dem vorigen ergibt.

So findet Fischer-Dieskau nach kurzer Ruh’ ("Sommerabend") zurück in die herbstliche Stimmung der Vergänglichkeit, zurück zu Tränen und Seufzern ("Es schauen die Blumen"), zu Abschied und Verzicht ("Meerfahrt", "Auf dem Kirchhof").

Doch bevor das begeisterte Publikum sich von Fischer-Dieskau und Hartmut Höll verabschiedete, dauerte es eine knappe halbe Stunde oder sechs Zugaben.

Gabriele Luster


    

     tz, München, 8. Oktober 1986     

Wer singt schon so wie er?

"FiDis" Liederabend

     

Ein Großer bleibt ein Großer. Die Faszination einer Persönlichkeit vom Range Dietrich Fischer-Dieskaus hat Bestand – auch über den Karriere-Scheitelpunkt hinaus. Im Rahmen der Konzertreihe "Meisterinterpreten" bestritt der größte aller deutschen Liedersänger im Herkulessaal ein rundes Brahms-Programm, wohlgeordnet von Opus 32, Nr. 1 bis Opus 107, Nr. 4.

Fischer-Dieskaus Lied-Aussage ist gültig wie eh und je, obwohl sich die einmaligen Qualitäten dieser Ausnahme-Stimme nicht mehr so selbstverständlich abrufen lassen. Wo einst das Wort dominierte, steht heute die fließende Melodie im Vordergrund, wird der Gesang mehr und mehr in den Brahmsschen Klaviersatz eingebettet (Hartmut Höll griff kongenial ungeniert zu). Das herrliche Piano trägt immer noch über ganze Lieder. Neu ist, daß mancher Ansatz flach gerät und so die Intonation leidet.

Aber das sind winzige Abzahlungsraten an die Vergänglichkeit schlechthin. Was bleibt und zählt, ist "FiDis" ungebrochener und von funktionssicherer Technik abgestützter Interpretations-Wille. Heinrich Heines nachttrunkene Mondschein-Romantik ("Meerfahrt"), das resignative Abschieds-Weh ("Auf dem Kirchhofe") und die kleine Entsagungs-Träne ("Maienkätzchen") Detlev von Liliencrons – sie liegen ihm heute endgültig und fraglos auf der Zunge. Ohne spekulative Farb-Variante steigt er in das Mädchenlied "Therese" (Gottfried Keller), begegnet er humorig Goethes Delila-Seufzern. Es gibt keinen Anspruch, dem er nicht zu genügen vermag.

Das Publikum feierte Fischer-Dieskau mit den üblichen Ovationen und forderte Zugabe über Zugabe. Wer singt schon das "Ständchen" so wie er?!

E. L.

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