Zum Konzert am 2. November 1986 in München


 Süddeutsche Zeitung, 4. November 1986

Etwas behinderte Trauer

Hanns-Martin Schneidt mit Brahms’ "Requiem" am Gasteig

Auch wenn der nach jedem Requiem, nach jeder Passion jäh hereinbrechende Beifall, der möglicherweise so etwas wie die Unfähigkeit zur Ergriffenheit zu signalisieren scheint, die Frage als lästige Lappalie abtun mag, sie sei gestellt: Wie traurig darf und soll das "Deutsche Requiem" von Johannes Brahms sein?

Mehr als ein Jahrzehnt arbeitete Brahms an seinem Requiem. Er müht sich um die musikalische Großform, er probt die Handhabung des ausgewachsenen Orchesterapparates, und er weiß sich hier in der Auseinandersetzung mit Bachs Hoher Messe und Beethovens "Missa". Schon nach den Aufführungen der jeweils fertigen Teile stellte sich die Frage: Ist das nun Kirchenmusik oder Konzertmusik? Wie der Titel besagt, weicht Brahms von der liturgisch vorgeschriebenen Form wie vom Text ab. Mit anderen Worten: er ordnet den liturgisch installierten Erlösungsgedanken der Furcht und der Qual unter. So hören wir Schauer des Todes, vernichtendes Todesgrauen, Ernst der Vergänglichkeit, Grauen der Verwesung, um aus einigen Rezensionen der Uraufführung zu zitieren.

Wie traurig also darf und soll dieses Requiem sein? Diese Frage muß sich eine jede Interpretation stellen. Die Meisterschaft in der Behandlung des Orchesters, die gelungene Kühnheit der harmonischen Sprache, die sichere Hand bei der Wahl der Metren, all das stellt ja mehr als zufrieden, wie die Chorfugen selbst ein Bach- und Händel-verwöhntes Ohr nicht enttäuschen. Und auch die eindeutige Proportionierung (1-7, 2-6, 3-5) liefert keinen Grund zur Beunruhigung.

Auf die Wiedergabe allein kommt es an. Sie besorgte in der Philharmonie Hanns-Martin Schneidt mit dem Münchner Bach-Chor und dem Münchner Bach-Orchester. Maria Venuti sang das Sopran-Solo "Ihr habt nun Traurigkeit" ganz sicher und ruhig phrasierend, ganz sinnfällig der Textverzahnung folgend ("wie einen seine Mutter tröstet" gegen "von euch nehmen" oder "wiedersehen" gegen "trösten"). Ihre Stimme blühte durchaus auf, und doch verblieb die Musik im Halbdunkel der Trauer. Dietrich Fischer-Dieskau sang die beiden Bariton-Soli geradezu bewundernswert. "Herr, lehre doch mich" keineswegs als zerknirschter Büßer, sondern als ein Aufrechter, geradezu Fordernder. Er führte die Stimme ("Denn wir haben hie keine bleibende Statt") sehr gezielt, kleine Ornamentierungen traten zurück hinter der Linienführung.

Hanns-Martin Schneidt leitet das Bach-Orchester gut. Das zweite Stück ("Denn alles Fleisch es ist wie Gras"), einer der ergreifendsten Todesgesänge der Musikliteratur, klang allerdings nicht übermäßig düster; auch wenn die Pauke pianissimo zu halten ist, sollte die Ostinatfigur außerordentlich präzise kommen; bedrohlich statt störend also, weil nur so Trauer musikalisch bewußt gemacht werden kann. Und im Schlußstück "Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben", heißt es zweimal "Ja der Geist spricht"; als er das erstemal sprach, war er leider nicht zu hören, weil Schneidt in die Pianissimo-Vierklänge der Hörner und Posaune ein sattes Crescendo einbaute, was weder vorgeschrieben noch sinnvoll ist.

Einige Einwände gegen die Leistung des Chores sind nicht zu übergehen. Der Einsatz "Die Erlösten werden wiederkommen" stand nicht. Die versetzten Sequenzen blieben blaß, weil dem Baß die Präsenz fehlte. Er war in dieser Aufführung ohnehin etwas schwach, was an der Akustik liegen mag, mit der der Chor gewiß noch arbeiten muß; nur so ist zu erklären, daß etwa die Dominantwendung in "keine bleibende Statt" von der Tiefe her gar nicht aufgerollt wurde. Ein geradezu wunder Punkt aber war an diesem Abend der Sopran. Schon das G machte Schwierigkeiten (etwa: "ich hoffe auf dich", Teil III). Das As auf "wo ist dein Stachel" tat dann schon reichlich weh, und das B ging akustisch am Text sehr weit vorbei, der da lautet "und keine Qual rühret sie an".

Alles in allem eine gewiß ergreifende Aufführung, die allerdings in einigen wenigen Punkten nicht restlos überzeugte.

Baldur Bockhoff


   

    Abendzeitung, München, 4. November 1986     

Brahms unentschlossen

"Deutsches Requiem" mit Schneidt

 

An einem jener stürmischen Regentage, gegen den als Medizin üblicherweise nur ein Stapel Johann-Strauß-Platten hilft, luden Bach-Chor und -Orchester aus gegebenem Anlaß (Allerseelen) zum "Deutschen Requiem" von Brahms in die ausverkaufte Philharmonie.

Eine merkwürdig unentschlossene Aufführung. Dirigent Hanns-Martin Schneidt zelebrierte die reinen Chorsätze in bedächtiger Neutralität. Die Soprane des Bach-Chors hatten in den exponierten Lagen ihre Probleme. Vieles geriet allzu pauschal (Eingangs- und Schlußchor). Die Unerbittlichkeit des 2. Satzes ("Denn alles Fleisch es ist wie Gras") war geglättet. Persönlichkeit hieß die Parole.

Durchschnitt also, wären nicht die beiden Solisten Dietrich Fischer-Dieskau und Maria Venuti gewesen. Wie Fischer-Dieskau etwa im 3. Satz Anklage, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung demonstrierte, das ging wirklich unter die Haut. Und Maria Venuti sang ihr herrliches Solo im 5. Satz wunderbar innig, ganz in der Tradition einer Maria Stader oder Agnes Giebel.

Volker Boser

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