Zum Liederabend am 24. September 1987 in Berlin

    


     Berliner Morgenpost, 26. September 1987     

Blumensträuße für Dietrich Fischer-Dieskau

     

Auch bei seinem zweiten Festwochen-Auftritt in der Deutschen Oper änderte Dietrich Fischer-Dieskau das ursprünglich vorgesehene Programm. Aus einem Schubert- wurde ein Brahms-Abend. Daß Dieskau "Die schöne Magelone" gewählt hatte, war sehr willkommen. Dieser Liederzyklus ist mit dem Namen Dieskau aufs engste verbunden; kaum ein anderer Sänger hat sich ihm hingebungsvoller gewidmet.

Die wundersame Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter aus der Provence nur als eine Folge von anscheinend unzusammenhängenden Gesängen vorzutragen, entspricht ja Brahms’ Wunsch. Er sollte aber keineswegs unantastbar sein. Dieskau hätte ruhig die verbindenden Prosatexte der Ludwig-Tieck-Novelle sprechen sollen. Früher hat er das nicht nur auf Platte, sondern auch vor Publikum gelegentlich getan.

Den hochromantischen Habitus jeder einzelnen Romanze, ihre außerordentliche Ausdrucksvielfalt brachte Fischer-Dieskau so meisterhaft zur Darstellung, wie es wohl nur ihm eigen ist. Was taten dabei einige Eigenmächtigkeiten? Sie fielen überhaupt nicht ins Gewicht. Jede unterschiedliche Seelenlage, die Brahms an- und aufklingen läßt, die schwärmerische, ritterliche, lachende, schmerzliche und todesbereite, läßt Dieskau wunderbar konzentriert zu Tage treten. Eine interpretatorische Großtat, eine nicht ganz sechzig Minuten dauernde musikalische Sternstunde. Für sie bedankten sich die Zuhörer mit Blumensträußen und kaum enden wollendem Applaus, in den auch Dieskaus Klavierbegleiter Hartmut Höll mit einbezogen wurde.

W. Sch.


    

     Der Tagesspiegel, Berlin, 26. September 1987     

Wundersame Liebesgeschichte

Dietrich Fischer-Dieskau und Hartmut Höll in der Deutschen Oper

    

Der zweite diesjährige Liederabend Dietrich Fischer-Dieskaus in der vollbesetzten Deutschen Oper Berlin begann so, wie er endete: mit minutenlangem Beifall, der den Rang Fischer-Dieskaus trefflich dokumentierte. Welcher Sänger oder welche Sängerin schafft es sonst, mit einem Liedprogramm Jahr für Jahr Tausende in die Konzertsäle zu locken und zu begeistern, wo bei anderen Liederabenden gähnende Leere herrscht oder sie erst gar nicht stattfinden. Ob diese bedauernswerte Entwicklung an unserem durch Medien und Starkult geprägten Kulturleben liegt oder an der leisen Vielschichtigkeit der meisten Liedkompositionen?

Fischer-Dieskau umgeht dieses Problem, indem er die Grenzen der Gattung überschreitet, die Interpretation bis in Extreme steigert, auch auf die Gefahr hin, den intimen Rahmen eines Liedes zu sprengen. Im großen Saal der Deutschen Oper bleibt ihm allerdings auch gar nichts anderes übrig, und er versteht es wie kaum ein anderer, die Menge in seinen Bann zu ziehen.

Auf dem Programm stand: "Die schöne Magelone" Opus 33 von Johannes Brahms, der in diesem Zyklus 15 Romanzen von Ludwig Tieck vertonte. Diese Romanzen gehören zu Tiecks Novelle "Wundersame Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter aus der Provence" und begleiten die romantische Geschichte als Spiegel der Seelenzustände oder sind Teile der Handlung selbst.

Fischer-Dieskau singt nicht nur, er gestaltet, interpretiert, verkörpert die Empfindungen und Geschehnisse dadurch, daß er jeder Einzelheit, jedem Wort und jedem Komma zu seiner Bedeutung verhilft. Mitunter leidet der Stimmklang, die Intonation oder die Verständlichkeit. All dieses aber wird unerheblich durch die Intensität des Ausdrucks, die allerdings zuweilen durch das Zusammentreffen zu großer dynamischer Unterschiede die Einheit des einzelnen Liedes gefährdet. Am überzeugendsten singt Fischer-Dieskau die verhaltenen, traurigen oder sehnsüchtigen Teile, wenn sein wunderbar leises und doch spannungsvolles Pianissimo Farben bekommt, die ihm im Forte nicht mehr zur Verfügung stehen. Höhepunkt des Liederzyklus war die letzte Romanze, in der das glückliche Ende der Geschichte nicht in lautes, vordergründiges Freudengeschrei ausartet, sondern in ein inniges Glücksgefühl mündet, das Fischer-Dieskau auf unnachahmliche Weise darzustellen vermochte.

Der reichhaltige Klavierpart war bei Hartmut Höll in den allerbesten Händen, seine Finger sangen manchmal mehr als Fischer-Dieskaus Stimme. Da zwischen den Liedern nicht applaudiert wurde, war der Beifall am Schluß um so größer, aber nach vier Zugaben von Brahms und drei Blumensträußen (leider keinen für den Pianisten!) war der Sänger auch durch stehende Ovationen nicht zu noch mehr Kostproben seiner Kunst zu bewegen.

Andreas Richter

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