Zum Liederabend am 25. April 1988 in Nürnberg


     Nürnberger Nachrichten, 27. April 1988     

Wort wird Klang

Dietrich Fischer-Dieskau, singendes Jahrhundert-Phänomen, in Nürnberg

     

Am Ende des Konzerts prasselte der Applaus in dem seit Wochen ausverkauften Nürnberger Opernhaus noch fast eine halbe Stunde lang, bis Dietrich Fischer-Dieskau nach der sechsten Zugabe aufzuhören signalisierte. Bisher gastierte er immer in der Meistersingerhalle, jetzt sang er zur Gala der "Opern- und Konzertfreunde" im intimeren Raum des Theaters. Wie immer verschmähte er populäre Mischprogramme, sondern widmete das Recital konsequent einem Komponisten, diesmal dem Liedmeister Robert Schumann.

In die überschwenglichen Kritiken zu dieser Tournee mischte sich da und dort Enttäuschung über nachlassende Stimmkraft und Prägnanz. Daß ein 63jähriger, der sich 40 Jahre lang kaum schonte, nicht mehr so vital tönt wie ein Junger, ist selbstverständlich. Die Intensität des Audrucks jedoch hat sich in letzter Zeit noch gesteigert. Souverän beherrscht der Sänger alle künstlerischen Mittel, virtuos setzt er sie ein – auch wenn man nun diese famose Technik zu hören meint, die früher überhaupt nicht zu bemerken war.

In keinem Takt aber macht sich die handwerkliche Meisterschaft selbständig, sie dient exemplarisch einer nachschöpferischen Gestaltung, die Text und Musik immer tiefer durchdringt, immer vollkommener zur Einheit formt. Gefühl und Geist, Poesie und Klang, verschmelzen im höchsten Reife-Stadium zur Synthese. Dietrich Fischer-Dieskau ist alles in einem: Lyrik-Barde, Entertainer, Prediger, Märchenerzähler, intellektueller Wort-Interpret, singender Träumer und aufrüttelnder Agitator.

Vielschichtig wie seine Ausdrucks-Möglichkeiten war die Auswahl aus der Schatztruhe des Schumannschen Schaffens; die meisten Titel stammen aus dem überreichen Liederjahr 1840, hinzu kamen einige aus der Spätzeit, streng gegliedert nach den Dichtern. In der Rückert-Gruppe machte Fischer-Dieskaus Pianissimo-Kultur das Lied "Der Himmel hat eine Träne geweint" zum Juwel romantischer Innigkeit, und "Flügel, Flügel" zum Höhenflug ungestümer Phantasie. Zum melancholischen Stimmungsbild geriet Lenaus "Der schwere Abend".

Rhetorische Brillanz, markant geschliffene Diktion prädestinieren Fischer-Dieskau wie keinen anderen Sänger zum Deuter ambivalenter Texte Heinrich Heines. Er trägt Heines ironische Brechungen in Schumanns erzromantische Vertonungen; der Gesang vermittelt die Bitterkeit zwischen den Zeilen. Jene Mischung aus Leidenschaft und Resignation, charakteristisch für Heine und Schumann, hier wird sie vokales Ereignis: von der vehementen Dramatik der gespenstischen "Belsazar"-Ballade bis zum Sommernachtstraum "Es leuchtet meine Liebe".

Seelenzustände führt der Bariton so plastisch und differenziert vor wie in einer fesselnden Theaterszene. Hans Christian Andersens Gedicht "Der Soldat" steigert sich zur Tragödie jenes Todesschützen, der im Exekutionskommando den Freund mitten ins Herz trifft. Kraß wechselt die Trauerempfindung zur Fröhlichkeit über dem Abgrund in Andersens "Spielmann".

Eichendorff-Schumanns "Einsiedler" avanciert beinahe zu einer Gestalt Gustav Mahlers in todesnaher Einsamkeit zwischen Idyllik und Dämonie, naiv und irrational zugleich. Und am Ende des ausgedruckten Programms schlägt die Stimmung noch einmal um zum zwielichtigen Humor zweier Geibel-Lieder.

Als beispielhaft für das romantische Menschenbild im 19. Jahrhundert darf diese gesungene Lied-Anthologie gelten, weil in jedem Takt das Wissen um geistesgeschichtliche und musikhistorische Perspektiven anklingt. Bei aller Spiritualität blieb das Spontane unmanieriert erhalten. Dabei unterstützt den Sänger der sensible Pianist Hartmut Höll atemgleich.

Fischer-Dieskaus Universalität erschöpft sich bekanntlich nicht im Gesang; sie setzt sich fort in den Büchern des Schriftstellers, in den Bildern des Malers. Die Nürnberger Augustiner-Galerie zeigt eine gute Auswahl (bis zum 21. Mai).

Diese anderen Taten des Multitalents, über die wir früher berichtet haben, werden freilich überragt von seiner Kunst des Singens, die sich an diesem Abend erneut als Jahrhundert-Phänomen auswies.

Fritz Schleicher

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