Zum Liederabend am 28. Juni 1989 in Feldkirch


     Vorarlberger Nachrichten, Feldkirch (?), 30. Juni 1989     

Schubertiade: Eine (unbeschreibliche) "Winterreise" 
mit Dietrich Fischer-Dieskau

Von menschlicher Größe

  

Beim Hinausgehen: Ein nicht enden wollender Beifall: Menschen, die zutiefst angerührt sind, die wissen, daß es nach einer Aufführung des "Winterreise"-Zyklus nie eine Draufgabe gegeben hat und geben wird, die frenetisch weiter applaudieren und sich von zwei großen Künstlern, Dietrich Fischer-Dieskau und Altred Brendel, nicht losreißen können. Hier waltet ein Gefühl der Einmaligkeit, nicht als Sensation, sondern als unbegreifbare Nähe zu einem Komponisten Franz Schubert und seinem Dichter Wilhelm Müller, hier waltet das Gefühl, daß die Psychologie der Leiderfahrung in einem der größten Kunstwerke der Neuzeit nichts an Aktualität für uns Menschen eingebüßt hat und vollends lebendig geworden ist!

Beim Hinausgehen nehme ich auch den Einwand einer Konzertbesucherin auf: "Zu so etwas gehen nun die alten Semester - und die jungen?" Wie mir schien, eine wesentliche Bemerkung. Wenn wir heute nach den Werten fragen, die uns am Nerv unseres Menschseins anrühren, wenn wir die immer wieder geäußerte Feststellung hören, daß traditionelle Kunst dieser Art "museal", in Routine erstarrt und unzeitgemäß sei, dann verweise ich, oder besser, verweisen zwei durch den gängigen, "mechanistischen" Konzertbetrieb unbeschadete Musikerpersönlichkeiten - als glaubwürdige Anwälte der gegenwärtigen, unmittelbaren Wirkkraft dieser Kunst auf uns heutige Menschen - auf ihren hohen, sich jedem Zuhörer - hier und jetzt - manifestierenden ethischen Gehalt!

Die Frage stellt sich mir nicht, ob ich mir anmaßen wolle, eine solche " Winterreise" zu bewerten, gar an gekannten und erprobten Interpretationen "zu vermessen", nein, vielmehr drängt sich mir das Anliegen auf, uns Empfänger einer solchen unwiederbringlichen Botschaft gefühlsmäßig zu schulen und so zu entwickeln, daß wir an dieser gehörten, umfassenden Darstellung des Winterreise-Menschen, wie ihn Fischer-Dieskau und Brendel lebendig gemacht haben, im Stande sind, nachschöpfend teilzuhaben.

Es ist nicht meine Aufgabe, mitzuteilen, ob die Interpreten einem mir vorgeprägten geistigen Idealbild der " Winterreise" entsprochen haben, sondern ich muß, und alle, die diesen Abend miterlebt haben, eine als Besitz vereinnahmte Hörvorstellung revidieren und einen neuen Maßstab akzeptieren. Denn, was hier von Fischer-Dieskau und Alfred Brendel an "menschlicher Unmittelbarkeit", an Gefühlen freigesetzt wurde, ist eine neue Ebene, die es jenseits jeder Scholastik, zu sichten gilt.

War das die Gruppe von "schauerlichen Liedern", von denen Schubert gesprochen hatte, und denen bei ihrer erstmaligen Aufführung nach Schobers Bericht so wenig Erfolg beschieden war, daß man sich nur für das 5. Lied, den "Lindenbaum", erwärmen konnte?

Schubert, der natürlich um die geglückte Konsistenz seines Werkes wußte, hat sich wohl kaum eine solche seelisch verdichtete, von magischer Ausdruckskraft getragene Interpretation vorstellen können. Sei beispielsweise nur erwähnt, welch neue formale Aspekte dadurch auftauchten, daß Alfred Brendel am Klavier viele der Lieder "ineinanderfließen ließ" und dadurch die Entwicklung der stetigen Entmenschlichung, den jeweils sich abrupt neu einstellenden Seelenzustand greifbarer denn je machte (vgl. den Übergang "Erstarrung" zu "Lindenbaum"; usf.). Formal schienen sich auch die Lieder, welche das (eigene ) "Herz" ansprechen, zu den "Kopf"-Liedern (z. B. "Rückblick", "Irrlicht", "Der greise Kopf" usw.) in eine ungekannte psychologische Relation zusetzen. Dies alles sind äußerliche Bemerkungen, die nie verdeutlichen können, in welcher Weise Dietrich Fischer-Dieskau und Alfred Brendel diese Stationen menschlichen Leidens, der Verhärtung, dann des wiederum kindlich regressiven Dahinschmelzens, des Wahns, der Apathie usw. bis zur Gänze nachvollziehbar machten, daß durch den Mitvollzug eines derart intensiven, glaubwürdigen menschlichen "Absterbens" - interessanterweise - in der Wirkung auf die Hörer sich gerade, eine "wachsende" Idee des menschlichen Ethos, der uns Überantworteten Fülle menschlichen Seins, des unbeirrbaren Anspruchs der Naturkraft menschlicher Liebe innerhalb der Hierarchie der Werte einstellte.

Dietrich Fischer-Dieskau hat in unserer Musikwelt den Maßstab der Schubertschen "Winterreise" schon immer interpretatorisch festgelegt, ihn jedoch ein Großteil seines Lebens überdacht, neu formuliert und das Wesentliche immer mehr extrahiert. Wer mag bei einer solchen bis in die Poren des Ausdrucks durchfluteten Übermittlung an eine geschmeidigere Stimmbehandlung des jüngeren Sängers Fischer-Dieskau denken? Die" Winterreise" handelt von der Kenntnis des Lebens, der Leiderfahrung, der Todesnähe (als rettender Anker, ihm jedoch verwahrt), der ständigen Schmerzverzerrung, dem Grimm eines tapferen gepeinigten Menschen. Ich glaube nicht, daß man bald eine Winterreise dieses Zuschnitts finden wird, in dem diese menschlichen Eigenschaften derart glaubwürdig und großartig ausgebreitet werden, etwas, was der künstlerischen Aussage von Dietrich Fischer-Dieskau und Alfred Brendel gleichkommt.

Hans-Udo Kreuels




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