Zum Liederabend am 22. Juli 1989 in München
Süddeutsche Zeitung, 24. Juli 1989
Münchner Opernfestspiele
Ausgedeuteter Goethe
Dietrich Fischer-Dieskau singt Schubert-Lieder
Das Dichterwort stand obenan, als Dietrich Fischer-Dieskau im vor Andrang und Jubel schier berstenden Nationaltheater Goethe-Lieder von Franz Schubert sang. Jede genau artikulierte, sensibel gefärbte und philologisch abgesicherte Silbe blieb vernehmbar in dem weiten Raum, dessen Ausmaße der Idee des Klavierlieds als Intimkunst dekorativ zuwiderlaufen.
Das Melos, in dem Schubert die Gedichte zu Ende denkt, beschied sich mit beigeordnetem Rang; wo es einfach, strophisch und im besten Sinne naiv klingt, im Legendenton des "Königs in Thule" oder im "Heidenröslein", verflüchtigte es sich vor Fischer-Dieskaus höchst artifizieller Interpretationskunst. Überlegung trat an die Stelle der Empfindung; der Kommentar verdunkelte die Sache selbst.
Dietrich Fischer-Dieskau fand sich einem schwülen, drückenden Sommerabend ausgesetzt, als er nahezu die Hälfte der 61 Goethe-Vertonungen Schuberts singend ausdeutete, teils als Teile des Programms, teils als hochwillkommene Zugaben. Manches sehr weiche Piano, manche vorsichtige Nuancierung und die Diskretion, die Dynamik kaum oder nur für Augenblicke über das Mezzoforte hinaus anschwellen zu lassen, dürften Zugeständnisse an den launischen Juli gewesen sein. Hoher, ja allzu hoher Kunstverstand glich aus und ließ Geist und Willen über die Gegebenheiten siegen.
Trotz der auf einem wenig flexiblen Klavierton basierenden, nicht sonderlich profilierten Begleitung durch Hartmut Höll wurden die vier Ebenen der "Erlkönig"-Ballade beklemmend präsent: Erzähler, Kind, Vater, Erlkönig. Eine stattliche Baßtiefe und deklamatorischer Ingrimm trugen die beinahe opernhaften Szenen wie "Prometheus" und "Grenzen der Menschheit". Bei den "Gesängen des Harfners" trat der melodische Atem zurück hinter der Absicht, die Seelenanlage des verwirrten und unglücklichen Alten auszuloten. Wobei deutlich wurde, daß Schubert in seiner Einfachheit nicht minder differenziert verfuhr als später der Psychologe Hugo Wolf.
Vollends in Piano-Lyrik getaucht: "An den Mond", "Wonne der Wehmut", "Auf dem See" und die als Hauch musizierte "Meeres Stille". Der kurze, vehemente Ausbruch "Rastlose" Liebe setzte einen kräftigen, leidenschaftlichen Akzent. Durch Hartmut Hölls hastiges, überakzentuiertes Klavierspiel geriet "Schwager Kronos" in einige Bedrängnis. Nicht nur Arno Schmidt meint, hier habe Goethe das schönste deutsche Gedicht geschrieben. Die Verse wurden deutlich in ihrem Lebensübermut, doch das Klavier ließ den "rasselnden Trott" im derb angegangenen Sechsachteltakt poltern. Aus einiger Distanz näherte sich "Der Musensohn", recht geschwind, leise selbstironisch.
Ein Schubert-Abend in gebrochenen Farben und im Zeichen des lyrischen Wortes. So war es denn selbstverständlich, daß Dietrich Fischer-Dieskau auf manches Lied verwies, das die gängigen Programme beiseite lassen, obgleich es für Schuberts Verständnis Goethes eindringlich spricht. Es kam zutage, daß Schuberts Vertonung des "Rattenfängers" zu Unrecht von Wolfs Version beiseite gedrängt worden ist. Wolf gab ein Vortragsstück, Schubert ein Charakterbild im Lied. Man erfuhr, wie sich Schubert auf die Weisheit wie den Schalk des "west-östlichen Diwan" verstand und wie er in "Hoffnung" Gedankenlyrik vollends in Musik auflöste.
Der Goethe-Schubert-Abend eines gedankenvollen Virtuosen der vokalen Nuance. Ungemein artifizieller Umgang mit dem Lied, wobei mehr von Schuberts Tiefe des Goethe-Verständnisses als von Schuberts elementarer, melodischer Kraft die Rede war.
Karl Schumann
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Münchner Abendzeitung, Datum unbekannt
Hoher geistiger Anspruch
Nationaltheater: Dietrich Fischer-Dieskau sang Lieder von Schubert
Bei seinem längst zur Tradition gewordenen Liederabend während der Münchner Opernfestspiele sang Dietrich Fischer-Dieskau Lieder von Franz Schubert nach Gedichten von Goethe. Am Flügel: Hartmut Höll (Nationaltheater).
Gestaltete Liedprogramme waren seit jeher die große Kunst des Sängers Dietrich Fischer-Dieskau. Keine Konzessionen an Beliebtes und Bekanntes zu machen, sondern sinnvolle Bezüge herzustellen, das ist ihm bei seinem jüngsten Liederabend wiederum meisterhaft gelungen. Auf die "Gesänge des Harfners" und "Prometheus" folgte die schlichte, kurze "Meeres Stille"; der "König in Thule" war beziehungsreich zwischen "Grenzen der Menschheit" und "Erlkönig" gesetzt. Ein Liederabend von hohem geistigen Anspruch also, der den Hörer zu intellektuellem Nachvollzug zwang.
In gewohnter Präsenz setzte Fischer-Dieskau die ganze Vielfalt seiner Ausdrucksnuancen ein, vermied dabei aber auffallend deklamatorische Überbetonungen. Mit dem Verzicht auf jegliche Gefühlsseligkeit (Heidenröslein) und einer bewegend verinnerlichten Pianokultur demonstrierte er einmal mehr überragende Gesangs- und Interpretationskunst. Der technisch hochversierte Hartmut Höll beschränkte sich bei den bisweilen sehr raschen Tempi (Der Musensohn) auf Klangspitzen und Akzente, unterschlug damit aber wichtige melodische Strukturen. Tobender Beifall und viele Zugaben!
Rüdiger Schwarz