Zum Liederabend am 28. Juli 1990 in München

    

     Süddeutsche Zeitung, 31. Juli 1990     

    

Münchner Opernfestspiele

Mime des Kunstlieds

Dietrich Fischer-Dieskau mit Liedern von Hugo Wolf

     

Absichtslos ist nichts bei Dietrich Fischer-Dieskau, schon gleich nicht die Programmgestaltung seiner Liederabende. Wenn er also an den Beginn seines Hugo Wolf gewidmeten Abends im Nationaltheater die drei Michelangelo-Gesänge setzte, jene letzten Entäußerungen eines exaltiert-gefährdeten Genies vor der geistigen Umnachtung, dann bedeutete dies weit mehr als einen bloß besinnlich getönten Auftakt: Fischer-Dieskau legte damit eine Art Perspektive fest, näherte sich Hugo Wolfs Welt überwiegend romantischer Motive aus der Rückschau, aus der Erfahrung der Endlichkeit ("Alles endet, was entstehet"), aber auch mit dem hohen Pathos der Künstlerselbstbehauptung ("Wohl denk ich oft....") und der Innigkeit der Gefühlswelt ("Fühlt meine Seele ....").

Gefühl kann unter solchen Vorgaben kein naiv empfundenes und erst recht kein naiv besungenes sein. Es ist vielmehr kennzeichnend für Fischer-Dieskaus Spätstil, daß keine Nuance, keine noch so kleine Wendung der bloßen Intuition oder der aus sich selbst heraus verständlichen Kantabilität überlassen wird, sondern einem äußersten, minutiösen Gestaltungs- und Differenzierungsdrang unterworfen ist. Ein stark intellektuell gesteuerter Kunstwille bemächtigt sich da der Musik, gewiß mit dem Ziel einer optimalen Durchdringung und Vergegenwärtigung – aber auch mit dem Nebeneffekt, daß das Wie der Interpretationskunst den Kompositionen nicht nur verdeutlichend dient, sondern an Interessantheit bisweilen mit ihnen zu konkurrieren beginnt.

Fischer-Dieskaus Auswahl (Goethe- und Eichendorff-Lieder, aus dem Spanischen und dem Italienischen Liederbuch, schließlich eine Gruppe von Mörike-Liedern - die "Nimmersatte Liebe" unterschlug uns das Programmheft - bot nun an Interpretationswundern nicht wenig, bot eine deklamatorisch reiche Textumsetzung, deren rhapsodischen Freiheiten Hartmut Höll am Klavier mit staunenswert reaktionssicherer Einfühlung folgte. Es ist sicher kein Zufall, daß Fischer-Dieskau mit Höll einen literarisch höchst sensiblen Pianisten anderen vorzieht, die möglicherweise über eine noch reichere Anschlagspalette oder einen voluminöseren Klang gebieten.

Zu diesen Wundern zählt gewiß das Ausdrucks-Changieren auf engstem Raum, wenn bisweilen ein einzelnes Wort durch besondere Artikulation oder Änderung der Stimmführung bedeutsam hervorgehoben wird: Wenn also inmitten der fahlen Untergangspoesie des zweiten Michelangelo-Liedes das Wort "leblos" eisig erstarrt, wenn in "Grenzen der Menschheit" der Stimmcharakter sich im Wandel der Bilder vom Markanten ins Schmiegsame verändert ("Nur mit der Eiche / Oder der Rebe / Sich zu vergleichen"); und wenn in "Wanderers Nachtlied II" eine dramatisch-psychologische, Extremzustände umfassende Linie hin zur Erlösungssehnsucht gezogen wird, dann ist Fischer-Dieskau unverändert der gedankentiefste "Botschafter des deutschen Liedes".

Und doch können Irritationen nicht ausbleiben, wenn er einerseits die romantisch-magische Atmosphäre des Eichendorffschen "Nachtzauber" ätherisch schön entstehen läßt – und andererseits in seinem Hang zur Überdeutlichkeit vor Effekten nicht zurückschreckt, die einen bei jedem anderen Sänger an der stilistischen Noblesse zweifeln ließen. "Weil die Weiber Weiber sind" lautet ein gewiß heikler, der behutsamen Gestaltung bedürftiger Refrain aus dem Spanischen Liederbuch: Wie Fischer-Dieskau ihn zwischen wissend und trotzig, männerplump und schalkhaft variiert, mag eine plausible (nicht die einzige) Lösung sein; doch Fischer-Dieskau garnierte diese durch die Wiederholung nicht klüger werdende Ansicht über das Ewig-Weibliche auch noch mit gigoloreifem Hüftschwung und torerohaft-siegreichem Augenblitzen. Ein Olé-Effekt, den ein Künstler von seiner Dignität selbst bei spanischen Sujets nicht nötig hat (auch wenn das Publikum sich freut ...).

Zumal Fischer-Dieskau mit solch mimischer Überzeichnung falsche Eindrücke erweckt, die seinem raren Künstlerrang als philosophischer Sänger nicht gerecht werden. Da begann er Goethes "Ob der Koran von Ewigkeit sei" (als fünfte in einer Reihe von Zugaben, die mit der Zahl der Blumensträuße konkurrierten) in bohrendem Ernst, steigerte sich ins Pathos des Zweifelns – und stand plötzlich, als sich herausstellte, daß es weniger um den Glauben als um den Wein geht, spitzbübisch grinsend da, ganz so, als habe er alle Verdüsterung und allen Schmerz mit einem Druck auf einen verborgenen Schalter in unumwölkte Helle verwandelt. Ein kurzweiliges Schauspiel – aber ach, ein Schauspiel nur, das einen fragen ließ, ob nicht manch andre Miene der Ergriffenheit hier ebenfalls nur Schauspiel war.

Klaus Bennert

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