Zum Lesekonzert am 1. Oktober 1991 in Stuttgart


    

     Stuttgarter Zeitung, 4. Oktober 1991     

Musikalische Götz-Zitate

Ein Lesekonzert im Stuttgarter Schillersaal

     

Kaum hat die in Stuttgart ansässige Hugo-Wolf-Akademie für Gesang, Dichtung und Liedkunst ihren Schubert-Marathon beim Europäischen Musikfest beendet, da beginnt schon ihr neues Großprojekt, eine umfangreiche Komponistenporträtserie, die dem Dreigestirn Richard Strauss, Arnold Schönberg und Gustav Mahler gewidmet ist und die sich mit Liederabenden, Kammerkonzerten und Vorträgen über den ganzen Herbst hinziehen wird. Den Anfang machten nun Gert Westphal, Dietrich Fischer-Dieskau und Hartmut Höll, der Spiritus Rector der ganzen Serie und Chef der Hugo-Wolf-Akademie, mit einem Lesekonzert im Schillersaal. Bevor Fischer-Dieskau und Höll die zwölf Gesänge des 1921 auf Texte von Alfred Kerr komponierten Liedzyklus "Krämerspiegel" Opus 66 von Richard Strauss vortrugen, las Westphal, der am 5. Oktober übrigens seinen siebzigsten Geburtstag feiert, fünf Reisemomente aus Kerrs 1920 veröffentlichten zwei Bänden "Die Welt im Licht" und demonstrierte mit den geschickt ausgewählten, abwechslungsreichen Texten, daß er sich wie kaum ein anderer auf die Kunst des Vorlesens versteht. Ohne Pause ging es dann weiter mit Straussens "Krämerspiegel", einem kaum bekannten, dafür aber kompositorisch um so interessanteren Werk, das den Schöpfer von "Guntram", "Ein Heldenleben" oder "Der Rosenkavalier" von einer ganz ungewohnten Seite zeigt. Fast scheint es, als wolle Strauss in diesem Werkchen in den anbrechenden Zwanzigern den jüngeren Kollegen – oder vielleicht auch sich selbst – beweisen, daß er durchaus noch mithalten kann, was neuere Strömungen in der Tonkunst angeht. Obwohl er schon vor dem Ersten Weltkrieg Schönberg nach anfänglicher Ermunterung zu symphonischen Dichtungen empfohlen hatte, lieber Schnee zu schaufeln als zu komponieren, begegnet man hier unter anderem stilistischen Eigenheiten, die bereits an Hindemith oder an Eislers "Zeitungsausschnitte" oder an seine späteren Brecht-Vertonungen denken lassen.

Strauss war bekanntlich einer der ersten Komponisten, die sich – im eigenen Interesse – für die musikalischen Urheberrechte stark machten. So werden im "Krämerspiegel" eine ganze Reihe von zum Teil heute noch marktgängigen Musikverlagen aufs Korn genommen. Für seine ironischen Zwecke spannt der Komponist auch traditionelle Stilmittel á la Liszt, Chopin oder Schumann ein, kombiniert sie jedoch so raffiniert mit entsprechenden Textstellen, daß man auch hierin schon eine Vorwegnahme Eislerscher Techniken sehen könnte. Darüberhinaus sind die Lieder, die Fischer-Dieskau ohne falsche Zimperlichkeiten und mit verschmitztem Lächeln vortrug, gespickt mit Anspielungen auf eigene Werke, während ein Zitat des Beginns von Beethovens Fünfter ausgerechnet mit dem Hinweis aus dem bekannten Ausspruch Götz von Berlichingens kombiniert ist.

Als "Ausfluß einer Künstlerlaune" hat Strauss später sein Opus 66 bezeichnet, nachdem der darin verspottete Verlag Bote und Bock begreiflicherweise eine Drucklegung abgelehnt hatte. Und wie der Komponist hier souverän alle stilistischen Möglichkeiten ausspielte, so zogen Dieskau und sein Begleiter Höll alle Register der Vortragskunst.

Werner Müller-Grimmel

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     Stuttgarter Nachrichten, 4. Oktober 1991     

Intellektuell geprägter Kunstwille

LeseConcert mit Dietrich Fischer-Dieskau im Schillersaal

   

Der womöglich originellste, geistreichste, freilich auch meistgehaßte Rezensent unseres Jahrhunderts, ein Meister der schnoddrigen Pointe – das war der Berliner Theaterkritiker Alfred Kerr (1867-1948). Gleichsam als künstlerische Sublimation der Auseinandersetzung mit seinem Verlag um ein schuldig gebliebenes Liederheft komponierte Richard Strauss 1921 auf Texte Kerrs seinen "Krämerspiegel".

Dieser äußerst selten aufgeführte Liederzyklus war (und ist nach wie vor) die Domäne Dietrich Fischer-Dieskaus. Mirt seiner makellosen Sprachkultur, all den traumwandlerisch sicher plazierten Pianotönen seiner auch an diesem Abend unverändert staunenswerten Gesangstechnik bringt er die Strauss’sche Ironie zur höheren Synthese des Ausdrucks. Ein stark intellektuell kontrollierter Kunstwille bemächtigt sich der Musik, auf daß auch nicht die kleinste (sarkastische) Wendung dem Zufall überlassen bleibe. Die mitunter starken mimischen und raumgreifend gestischen Unterstreichungen bei den langen Vor- und Nachspielen – all diese Eigenarten sieht man gerade Fischer-Dieskau gern nach. Es ist ein insgesamt doch imponierender Spätstil, der bei anderen Sängern gewiß zu manchem Stirnrunzeln Anlaß böte.

Trotz solch fürsorglicher "Nachhilfe" fällt es uns Zeitgenossen nicht immer so leicht, wie im Falle des Verlages Bote & Bock ("Einst kam der Bock als Bote") oder mit Blick auf die Eigner ("O du Strecker!") für B. Schott’s Söhne, die verruchten "Händler" ("Sie bringen der Musik den Tod") zu dechiffrieren. Eher schon horcht man bei den Selbstzitaten, etwa aus "Tod und Verklärung", im selben Lied kombiniert mit der Vorwegnahme der "Mondscheinmusik" aus "Capriccio" auf – vom "Schicksalsmotiv" aus Beethovens Fünfter beim Stichwort "Götz von Berlichingen" nicht zu reden.

Daß Hartmut Höll seinen horrend schwierigen Klavierpart nicht immer mit letzter Deutlichkeit (8. Lied) im Griff hatte, ist gewiß verzeihlich. Erstaunlich jedoch, daß nicht einmal der gemeinsame Auftritt mit dem grandiosen Gert Westphal (71), der aus Kerrs "Die Welt im Licht" vortrug, den kleineren Schillersaal mit Zuhörern zu füllen vermochte. Westphal nämlich bot Anlaß zum Nachdenken: Wie kann das Vorlesen zur scheinbar selbstverständlichsten Sache der Welt werden? Sprechend fühlen und nachsinnen, mit erfülltem Pathos die Rednergabe nutzend, pointiert und anschaulich, mit schier unendlichem Atem. Westphal macht all dies nicht die geringsten Schwierigkeiten. Eine dreiviertel Sternstunde also zu Beginn einer Strauss-Reihe der Internationalen Hugo-Wolf-Akademie Stuttgart, deren Jahres-Almanach nicht nachdrücklich genug empfohlen werden kann.

Helmuth Fiedler

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