Zur Liedermatinee am 20. November 1991 in Stuttgart


    

     Stuttgarter Zeitung, 22. November 1991     

Durchbrochener Volksliedton

Dietrich Fischer-Dieskau mit Mahler-Liedern im Großen Haus

      

Zu den bei vorhergehenden Konzerten der Hugo-Wolf-Akademie gewürdigten Komponisten Richard Strauss und Arnold Schönberg gesellte sich nun Gustav Mahler und ergänzte das Duo zu einer für die Musik der Jahrhundertwende repräsentativen Trias. Wie Clemens von Brentano und Achim von Arnim in der Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" überlieferte Volksliedtexte erweitert und romantisiert haben, so "vervollständigte" und transferierte auch Mahler manches Gedicht in die von ihm gewünschte und erlebte poetisch-musikalische Sphäre. Der Volksliedton erfährt auf diese Weise gleichsam eine doppelte Brechung. Am deutlichsten wird dieser Eingriff bei dem Lied "Wo die schönen Trompeten blasen".

Dietrich Fischer-Dieskau, der wie kein zweiter und in stärkerem Maße als die meisten seiner Sängerkollegen die Zusammenhänge zwischen Poesie und Musik reflektiert hat, ließ bei den Liedern aus der Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" den dieses Durchbrochensein markierenden "ironischen" Abstand überall spüren. Abgesehen davon setzte er alle die ihm in reichlichem Maße zur Verfügung stehenden stimmlichen, gesanglichen, gestalterischen und gelegentlich auch gestischen Mittel ein, um den Hintergund, die Stimmung und "Situation" des jeweiligen Liedes zum Ausdruck zu bringen oder zu beschwören. Die intensive, trotzig anklagende Darstellung des verhungernden Kindes in dem Lied "Das irdische Leben" oder die das Groteske betonende Wiedergabe des Liedes "Der Tambourg’sell" sollen dafür als Beispiele stehen. Aber auch die Darstellung humorvoller Vorgänge, wie sie sich zum Beispiel in "Des Antonius von Padua Fischpredigt" findet, kam ebenso zu ihrem Recht wie die Stimmung des mit einer Mischung von Pathos und leichter Ironie zu singenden "Der Schildwache Nachtlied" ("Er ist ein Kaiser! Er führet den Krieg").

Die vorbildlich gesungenen, langgezogenen Crescendi und Decrescendi auf einem einzigen Ton, die Modifizierung der textlichen und musikalischen Wortwiederholungen (zum Beispiel das häufige "Ade" in dem Lied "Scheiden und Meiden"), die plötzlichen dynamischen Wechsel und der kluge Gebrauch der Kopfstimme, aber auch die weiten Kantilenen – dies und manch andere Beobachtung dokumentierten aufs neue die von Fischer-Dieskau über viele Jahre und Jahrzehnte hinweg gepflegte hohe Kunst des Liedgesangs.

Hartmut Höll stellte in der Einleitung die Atmosphäre des jeweiligen Liedes sogleich her, unterstützte den Gesang bis in die letzte Nuance hinein und ließ nicht nur beim "Trauermarsch" des "Tambourg’sells" die Tendenz zur Instrumentierung, die Mahler von Anfang geplant und auch vorgenommen hat, deutlich werden, abgesehen davon, daß jeder Akkord und jede Linie genau saßen. Da die "Wunderhorn"-Lieder keinen so geschlossenen Zyklus darstellen wie etwa Schuberts "Winterreise", wurde das Publikum für seinen frenetischen Beifall mit Mahler-Zugaben belohnt: "Ich atmet’ einen linden Duft", "Blicke mir nicht in die Lieder" (nach Rückert), "Steh auf" und "Das Mädchen kam aus dem Fischerhaus".

Otto Bantel

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     Stuttgarter Nachrichten, 21. November 1991     

Viele kleine Wunder

Dietrich Fischer-Dieskaus Mahler-Matinee im Großen Haus

   

Sie sind schon fast zu einer schönen Selbstverständlichkeit geworden: die von Hartmut Höll und seiner Hugo-Wolf-Akademie initiierten Liederabende Dietrich Fischer-Dieskaus. Die hiesigen Musikfreunde sollten diese Zuwendung zu schätzen wissen, und zwar auch dort, wo der Bariton – wie beim jüngsten Strauss/Kerr-LeseConcert – nicht eben auf vertrauten Programmpfaden wandelt.

Bei Fischer-Dieskaus Mahler-Matinee mit Liedern aus "Des Knaben Wunderhorn" am gestrigen Buß- und Bettag allerdings bestand zu solchen Mahnungen kein Anlaß: Das Große Haus war bis auf einige wenige freie Plätze, die seltsamerweise nicht zu ermäßigten Schüler- oder Studentenpreisen in den Verkauf gelangten , voll besetzt.

Fischer-Dieskaus Kunst, die Singstimme dem Textgehalt nach zu deuten und dennoch in den musikalischen Ablauf zu integrieren, ist viel bewundert worden. Und wer etwa erwartet hatte, daß bei dem Mittsechziger nunmehr die sprachliche Ausdruckskraft über die belkantistische Melodieentfaltung obsiegen würde, der mußte rasch umdenken.

Wunderbar auskoloriert und mit weit mehr Sogkraft zum pfiffigen Schluß hin als früher gelang "Wer hat dies Liedlein erdacht?", mit intellektueller Schärfe und Genauigkeit des Gefühls bis zum Schmerz gesteigert "Das irdische Leben". Eindringlich in seiner Differenzierung auch das Rollenspiel im "Lied des Verfolgten im Turm". Traumschön, traurig und trostspendend zugleich "Wo die schönen Trompeten blasen". Zu den kleinen Wundern bei Fischer-Dieskau gehört der Ausdruckswechsel auf engstem Raum, wenn bisweilen – wie in "Revelge" – ein einzelnes Wort durch besondere Artikulation oder – wie in "Zu Straßburg auf der Schanz" – durch eine Änderung der Stimmführung etwa ins Mezza voce oder die Kopfstimme bedeutsam hervorgehoben werden.

Wieder einmal konnte man Fischer-Dieskau zu seinem Mitgestalter Hartmut Höll beglückwünschen, der nicht nur wahre Orchestergewalten, sondern auch die duftigsten Farben aus seinem Flügel hervorzuzaubern verstand. Kurzum: Die nach langen Ovationen und vier Mahler-Zugaben ("Frühlingsmorgen", den beiden Rückert-Liedern "Ich atmet’ einen linden Duft" und "Blicke mir nicht in die Lieder" sowie "Phantasie") auf fast zwei Stunden ausgedehnte Matinee war auch eine Sternstunde für den Liedbegleiter.

Helmuth Fiedler

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     Südwestpresse Tübingen, 21. November 1991     

Scheiden und Meiden

Ein Stuttgarter Buß- und Bettag mit Dietrich Fischer-Dieskau

   

Ein Mann wie ein Schrank. Aus ihm stößt und stöhnt, säuselt und wispert, donnert und blitzt, strömt und flirrt, karessiert und prügelt, haucht und faucht die unverwechselbarste Bariton-Stimme des Jahrhunderts. Dietrich Fischer-Dieskau, mit 66 längst Legende zu Lebzeit, sang gestern auf einer Matinee der Internationalen Hugo-Wolf-Akademie in der ausverkauften Stuttgarter Staatsoper 57 Programm-Minuten lang vierzehn Lieder aus Gustav Mahlers Vertonungen der bittersüßen Romantiker-Gedichte "Des Knaben Wunderhorn".

Und ein Deutscher ist Fischer-Dieskau vom Scheitel bis zur Sohle, vom bei ihm immer konfirmandenhaft aussehenden Anzug bis zur Krawatte und dem Einstecktüchlein – der Inbegriff deutschen Singens (und deshalb für Verdi nicht unbedingt das Richtige, davon läßt er aber zum Glück auch inzwischen die Finger). So sehr, daß er, als einziger, es fertigbringt, aus dem alten deutschen Liedgut Weltkunst zu machen. Als Live-Interpret tut er nicht viel, lehnt sich mal entspannt auf den halb hochgeklappten Deckel des Flügels, tritt zwecks stärkerer Prononcierung einen Schritt vor an die Rampe, läßt die wässrigen Augen nach oben schweifen und ist im übrigen ganz geistige Konzentration und Kontemplation.

Mit einem abrupten Kopfruck gibt er das Zeichen zum Beginn für seinen derzeitigen Leibpianisten Hartmut Höll. Dann sind die beiden phänomenal bei der Sache und in jeder Sekunde genau auf dem Punkt. Das Publikum ist mucksmäuschenstill, traut sich kaum zu atmen, hängt an Fischer-Dieskaus so markant formulierenden Lippen, leidet und freut sich mit ihm und der zur Anteilnahme auffordernden Romantikessenzen. So viele Nuancen und Färbungen, wie er für einen Ton und ein damit verbundenes Wort findet, hat sonst niemand im Stimmvokabular. Aus der kleinsten Strophe erwächst bei ihm ein Mini-Drama oder ein geistreiches Aperçu.

Gustav Mahler ist natürlich wie geschaffen für den Buß- und Bettag. Innerliches vom Scheiden und Meiden – "Ade" in allen Tonarten. Aber auch die grimmige Kriegstrommel wird gerührt. Meist jedoch Lindenbaum, Herzeleid und Mitternachtsmelancholie. Um die trüben November-Stimmungen nicht überhandnehmen zu lassen, schließt Fischer-Dieskau seine Mahler-Liederauswahl ab mit Falstaff-Trost: Alle sind wir Narren, alles ist Spaß auf Erden, das berühmte Lausbuben-Lächeln huscht über sein abgemagertes Gesicht.

So ist er fast unmerkbar gealtert. Die durchlittenen Krankheiten haben seiner Stimme offenbar auf Dauer nichts anhaben können. Aber kriegt er denn mit 66 noch alle hohen Töne astrein? Anstandslos! Die Höhe mag noch so forciert sein, es gleist und klirrt bei ihm unnahbar eisig. Um so baritonal-samtiger und warm die Tiefen. Er steht da wie ein Fels, er trifft und hält die Töne felsenfest. Und sein Ureigenstes, diese unnachahmlichen Expressionismen, es kommt reifer und überzeugender denn je – die Mischung aus emotionsgeladen und verstandeskontrolliert gibt jedem von ihm gesungenen Lied eine unwiderstehliche Kraft.

Am 1. Dezember, nun freuet euch, ist er schon wieder zu Gast in der Stuttgarter Staatsoper: Mit Schuberts "Schöner Müllerin", dem Herzstück seiner Interpretationskunst. Da gibt es dann aber sicherlich keine vier Zugaben wie jetzt beim Mahler-Wunderhorn – die "Schöne Müllerin", so wie ich sie von ihm jüngst bei den Berliner Festwochen gehört habe, zwingt er in eine durchgehende geschlossene Einakter-Form mit Anfang und endgültigem Ende.

Christoph Müller

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