Zur Liedmatinee am 3. Mai 1992 in Düsseldorf


Rheinische Post, Düsseldorf, 4. Mai 1992

Umjubelte Liedmatinee Dietrich Fischer-Dieskaus

Meister auf nochmals höherer Stufe

Es war ein ganz großes Glück für die Düsseldorfer Musikfreunde, daß die Liedmatinee Dietrich Fischer-Dieskaus im Opernhaus wie vorgesehen stattfinden konnte. Von allen Konzerten dieser Saison möchten wir dieses am wenigsten missen. Das Publikum wußte auch richtig einzuschätzen, was ihm da zuteil wurde: Es gab Ovationen von einer solch überschwenglichen Herzlichkeit, wie wir sie lange, lange nicht mehr erlebt haben.

Die Matinee galt dem Gedenken des im Juni vorigen Jahres verstorbenen Claudio Arrau, der 1983 als erster zum Ehrenmitglied der Robert-Schumann-Gesellschaft ernannt worden war.

[...]

Dann kamen Dietrich Fischer-Dieskau und sein Klavierpartner András Schiff. Ein wenig hatte man zuvor gerätselt, warum der Bariton ausgerechnet Schuberts "Die schöne Müllerin" für die Gedenkmatinee gewählt hatte. Den Zyklus konnte man ja kaum in Bezug zu Arrau bringen, und außerdem war die Annahme nicht abwegig, Dieskau könnte uns kaum noch sensationell Neues mit einem Werk sagen, das er schon zahllose Male gesungen und mehrfach auf Platte eingespielt hat.

Geheimbezirke

Gerade das aber stellte sich als ein Irrtum heraus. Es war, als habe der Liederinterpret noch einmal eine höhere Stufe erklommen, als sei er in Geheimbezirke vorgedrungen, die ihm bislang noch verschlossen geblieben waren. Er ließ nie gehörte seelische Zwischentöne anklingen, berührte ungeahnte Saiten der Empfindung.

Es war so aufregend, daß man gar nicht danach fragen konnte und mochte, wie es denn um die Stimme des über 60jährigen gegenwärtig bestellt sei. Die verfügt offenbar immer noch über ausreichende Ressourcen, hat sich womöglich noch verjüngt. Den Eindruck gewann man bei dem entschlossen ausgesungenen Forte in "Ungeduld", bei dem ungemein zarten Pianissimo in "Tränenregen". Und von dem stimmlichen Nuancierungsreichtum, mit dem Dieskau eine einzige Phrase in "Der Neugierige" formt, davon können andere Sänger nur träumen.

Doch die Frage der stimmlichen Beschaffenheit tritt ins zweite Glied angesichts einer Gestaltungskunst, die ihresgleichen sucht. Mit ihr vermag Fischer-Dieskau Erfahrungen, die sich in einem Sängerleben angesammelt haben, zu vergegenwärtigen, ins Unmittelbare zu überführen. Und obwohl seine Interpretation selbstverständlich durch viel kluges Kalkül gestützt wird, bleibt als maßgeblicher Eindruck der des Spontanen, des gleichsam hautnah Erlebten haften.

Die nachhaltigste Wirkung erzielt Fischer-Dieskau durch die Mittel, das man die Dramaturgie der zyklischen Wiedergabe nennen könnte, eine Dramaturgie, welche die lose gereihten Szenen der Liednovelle enger aufeinander bezieht, durch Vorausahnung und Rückblick. So zeichnet sich schon im siebenten Lied "Morgengruß" die tragische Wende ab; im 16. "Die liebe Farbe" ist das Ende schon besiegelt, und im Schlußstück weht noch einmal ganz vorübergehend der Hauch gewesenen Glücks.

Das konnte man wahre Meisterschaft nenne, und durch diese Meisterschaft war es eine würdige Gedenkmatinee für Claudio Arrau. Dieskau hatte allen Grund, sich bei András Schiff demonstrativ zu bedanken. Der war ein ganz außergewöhnlicher Klavierpartner gewesen, der Tempo, Rhythmus und Dynamik förmlich an den Lippen des Sängers ablas. Das Rieseln, Murmeln und Rauschen des Bachs war in diesem fabelhaften Klavierspiel der Cantus firmus, um den in Freude und Jubel, in Schmerz und Verzweiflung der vielstimmige Chor der Empfindungen tönte.

Hans Huber Schieffer


   

     Westdeutsche Zeitung, Düsseldorf, 4. Mai 1992     

Der absolute Aristokrat

Ehrung für Claudio Arrau in der Oper mit Dietrich Fischer-Dieskau

    

Was Claudio Arrau unter den Pianisten, das ist Dietrich Fischer-Dieskau unter den Sängern: ein Aristokrat und Humanist, der Hohepriester der absoluten Textinterpretation. Wer also eignet sich besser, den 1991 während des Düsseldorfer Schumann-Festes verstorbenen Arrau zu würdigen, der ein Bewunderer von Dieskaus Kunst und von Schuberts "Schöner Müllerin" war?

Wie Arrau übt auch Fischer-Dieskau objektive Werktreue. Seine Deutung des Liederzyklus‘ zeugt von detailliertester geistiger und emotionaler Durchdringung. In dem Gedenkkonzert zeigte sich, wie vielseitig Schuberts Musik ist, die schnell in oberflächlicher Heiterkeit ausgelegt wird. Was hilft eine wohlklingende Stimme, wenn sie in der Schlichtheit der musikalischen Sprache den tiefen Gehalt nicht findet? (Man erinnere sich an Uwe Heilmann, der kürzlich das gleiche Programm bot.)

Dem 67jährigen Fischer-Dieskau ist sein Alter in keiner Weise anzumerken: Seine Qualitäten sind bekannt und doch immer wieder begeisternd. Seine Stimme ist nach wie vor unglaublich flexibel und insbesondere im Pianobereich von einem warmen Timbre, das jeden Ton plastisch formt.

Alle Freud‘ und alles Leid des Müllergesellen, der auf die Liebe seiner Meisterin hofft, wurde hier nachvollzogen: jugendlich ungestümes Drängen in der Wander-Strophe, ängstliches Flüstern auf der Suche nach dem rechten Weg, Kurzatmigkeit am "Feierabend", vollkommene Ruhe und endloses Sehnen des "Neugierigen", Hetze des "Jägers".

Ebenbürtig der Ungar Andras Schiff am Klavier, der sich durch Auftritte bei internationalen Festivals und zahlreiche Schallplattenaufnahmen einen Namen machte. Eine selten zu erlebende innere Verwandtschaft mit dem Bariton spricht aus seinem Klavierspiel, das ebenfalls ohne jegliche Affektiertheit stets im Dienste der Musik steht; das ebenfalls stilistische Gestaltungsvermögen beweist, sicher, elegant oder kräftig in allen Registern sich bewegend, hochkonzentriert dem Sänger sich anpassend.

In diesem von der Robert-Schumann-Gesellschaft veranstalteten Konzert wurde deutlich, daß Musik eine Sprache ist, die beginnt, wo das Wort endet.

(C. K.)


   

     Neue Rheinzeitung, Düsseldorf, 4. Mai 1992     

Gedenkkonzert für den chilenischen Pianisten Claudio Arrau

Seine Liebe galt der "schönen Müllerin"

   

Am 14. Juli 1991, während des Düsseldorfer Schumann-Festes, sollte der chilenische Pianist Claudio Arrau ein Konzert in Düsseldorf geben. Doch am 9. Juli verstarb der Pianist, der seit 1983 erstes Ehrenmitglied der Robert-Schumann-Gesellschaft in Düsseldorf war. Am Sonntag fand nun ein Gedenkkonzert der Robert-Schumann-Gesellschaft zu Ehren Arraus in der Oper statt.

[...]

Wie gestaltet man nun am besten ein Gedenkkonzert für einen der berühmtesten Pianisten unseres Jahrhunderts? Man entschied sich für ein Konzert mit einem anderen Ehrenmitglied, mit dem Bariton Dietrich Fischer-Dieskau, der sich den Liederzyklus "Die schöne Müllerin" von Franz Schubert erwählt hatte, um das Publikum an eine der Vorlieben Arraus zu erinnern.

Doch zuvor ein Vortrag von Karl Schumann. [...]

Dann Fischer-Dieskau, begleitet von dem hervorragenden András Schiff am Flügel. Auch wenn man Fischer-Dieskau sein Alter von 66 Jahren ein wenig anmerkt, so ist doch kaum ein Kammersänger in der Lage, seine Zuhörer so stark zu bewegen, ihre Gefühle so zu ergreifen. Nicht immer stimmte seine Klanglichkeit, konnte man auch leichte Einbrüche in der Intonation in hohen Lagen bemerken, doch die Deklamation, der dramatische Aufbau machten dies wett.

Kein Wort blieb sich überlassen, sondern fand Eingang in ein geschlossenes Ganzes des gefühlsstarken Gesangsausdrucks. András Schiff folgte mit seinen Augen nur den Lippen Fischer-Dieskaus und setzte dieses Folgen in sensible Begleitung um. Ein hervorragender pianistischer Begleiter, wie man sich besser kaum einen vorstellen kann.

Die Zuhörer waren begeistert, ergriffen von diesen beiden Künstlern. Erst nach sieben "Vorhängen", Bravo-Stürmen und "standing ovations" ließ man sie endgültig die Bühne verlassen.

Carsten Dürer

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