Berliner Morgenpost 12. Februar 2003 Blick hinter die Maske Zum Hugo-Wolf-Jahr durchleuchtet Dietrich Fischer-Dieskau die Biografie des Komponisten Von Martina Helmig Vierzig Jahre lang hat sich der Bariton Dietrich Fischer-Dieskau für Hugo Wolf eingesetzt. Zum 100. Todestag des großen Liedkomponisten, der bereits mit 43 Jahren in der Irrenanstalt verstarb, hat der Berliner Sänger ein neues Buch veröffentlicht: "Hugo Wolf. Leben und Werk" (Henschel-Verlag, 39,90 Euro). Berliner Morgenpost: Warum entschwindet Wolfs Werk allmählich aus dem Gedächtnis? Dietrich Fischer-Dieskau: Wir befinden uns heute in einer Gesellschaft, die zum Genuss bereit ist, aber nicht zur Mitarbeit. Ein Publikum, das beim Zuhören nicht kooperativ ist, sich nicht wirklich in das Werk hineinkniet und Strukturen nachvollzieht, wird es mit Hugo Wolf schwer haben und ihn ablehnen. Das war schon zu seinen Lebzeiten so. Viele Freunde haben geschimpft: "Warum machst du es den Zuhörern so schwer? Das muss doch nicht sein! Und ist diese Harmonieverbindung überhaupt richtig?" Für Ihre Wolf-Biografie hat Ihnen die Sängerin Elisabeth Schwarzkopf unveröffentlichtes Material aus dem Nachlass ihres Ehemanns Walter Legge zur Verfügung gestellt. Wie verändert sich dadurch das Bild von Hugo Wolf? Der wichtigste neue Aspekt ist die völlig zerrüttete Ehe zwischen den Eltern. Die Mutter lebte vorne im Haus, der Vater irgendwo hinten. Sie schimpfte den ganzen Tag im Fortissimo. Natürlich hat das Hugo beeinflusst. Sie haben sich Ihr ganzes Leben lang mit Wolf beschäftigt. Hat die intensive Arbeit an dem Buch Ihre Sicht auf den Komponisten beeinflusst? Als Interpret würde ich heute nichts anders machen. Er ist ja ein Charakter gewesen, der in der Lage war, sich jedes Mäntelchen umzuhängen und sich jede Maske aufzusetzen. Er war ein vielseitiger, ausgezeichneter Schauspieler. Diese Dinge sind unveränderbar. Finden Sie es wichtig für das Verständnis der Lieder, sich mit seiner komplizierten, zerrissenen, extremen Persönlichkeit auseinanderzusetzen? Für mich war es immer wichtig, die Umwelt, den Hintergrund und die Quellen zu ergründen. Ich wollte mich nicht mit dem Erzeugnis eines mir Unbekannten abgeben. Bei Hugo Wolf ist es amüsant und zugleich tragisch zu sehen, wie hastig und doch starrsinnig er war. Nur die kurze, an das Gedicht gebundene Form hat er wirklich beherrscht. Er hat für sein Schaffen gelebt. Wenn die Produktion gestört war durch krankheitsbedingte Irritationen, Kopfweh oder Inspirationsdürre, wurde es sehr schwierig. Bei kaum einem anderen Komponisten steht die Textausdeutung so im Vordergrund wie bei Hugo Wolf. Seit 1953 haben Sie seine Lieder überall gesungen, auch in Japan und Amerika. Waren die Reaktionen dort anders als in deutschsprachigen Ländern? In Japan gibt es eigentlich das beste Publikum für Lieder. Japaner gehen nicht unvorbereitet ins Konzert, sie lesen vorher ein bisschen in den Noten oder sehen sich die Texte genauer an. Nach einer Statistik österreichischer Konzerte steht Hugo Wolf an fünfter Stelle nach Schubert, Brahms, Schumann und Strauss. Auf welchem Platz stand er in Ihrem Sängerleben? Auf Nummer eins. Bei meinem allerersten Liederabend hier an einem Berliner Gymnasium habe ich schon Hugo Wolf gesungen. Hugo Wolf rangiert bei Ihnen wirklich vor Schubert? Naja ... Schubert. Ich habe mit 14 Jahren versucht, mir die Begleitungen zusammenzuklimpern auf dem Klavier und war natürlich begeistert von der "Winterreise". Wie sehen Sie Wolfs Werke: War er ein Vorläufer der Moderne oder der Vollender des deutschen Kunstliedes? Eher ein Vollender. Viele haben ihn in Beziehung zu Schönberg gesetzt, weil er mit seinen sehr komplizierten harmonischen Wendungen tatsächlich in die Nähe des Atonalen gerät. In gewisser Weise hat die Geschichte des deutschen Kunstliedes aber mit ihm ihren Abschluss gefunden. Im vergangenen 20. Jahrhundert sind aber zwischen Paul Hindemith und Aribert Reimann viele Lieder entstanden. Ja, ich habe das alles durchgekostet, aber das Lied, wie wir es in Schuberts Nachfolge verstehen, hört bei Wolf wohl auf. Das Material ist erschöpft. Es gibt nichts, was nicht schon einmal geschrieben worden wäre. Wir sind bis zur letzten Konsequenz zwischen Geräusch und Stille gegangen. Wir brauchen ein originäres Genie, dem etwas einfällt, das noch nicht dagewesen ist. Da habe ich nur sehr bedingte Hoffnung. Hugo Wolf hat ein sehr überschaubares Oeuvre hinterlassen: gut 300 Lieder und wenige andere Werke. Wie viel ist unterbewertet? In den Konzerten wiederholen sich immer dieselben 40 Lieder, der Rest ist Schweigen. Es gibt wirklich unerkannte Perlen, zum Beispiel bei den Jugendliedern. Welche Hoffnungen setzen Sie in dieses Jubiläumsjahr? Es sollte einen Anstoß geben, wenn bis in die verlassensten Winkeln hinein, sogar in Thailand und Neuseeland, Hugo-Wolf-Feiern stattfinden. © Berliner Morgenpost 2003 |
zurück zu News