Der Einzug ins ehrwürdige Sheldonian Theatre im Herzen von Oxford war Musik umklungen, langsam und feierlich. Man schrieb den 21. Juni 1978. Die künftigen Ehrendoktoren der berühmten Universität schritten gemessen Seit an Seit. «Bloß nicht im Takt gehen», wisperte Herbert von Karajan, wie alle anderen im Ehren-Talar, doch in Gedanken immerfort unbremsbarer Regisseur, aus den Mundwinkeln seinem hochragenden Nebenmann zu.
Der nahm's gelassen, wie auch die feine lateinische Huldigung, adressiert an diesen Dietrichum Fischer-Dieskau, «Berolinensium delicias», das «Entzücken der Berliner Bürger», dem ausdrücklich nachgerühmt wurde, unermüdlich für Künstler wie einen gewissen Franciscus Schubert, aber auch für einen Hugo Lupus aus dem Geschlecht der musizierenden Wölfe eingetreten zu sein. Oxford genießt seit jeher das standesgemäß lateinische Rühmen, verbunden mit heimlicher Schmunzelei.
Dietrich Fischer-Dieskau, der heute 75 Jahre alt wird, wurde prompt von Harold Macmillan, dem einstigen Premierminister Englands, nun Kanzler der Universität Oxford, ehrenhalber zum Doktor der Musik erhoben. Schon Joseph Haydn war einst diese eminente Auszeichnung widerfahren.
Ein hochherziger Akt des Mutes ebenso wie der Kunst war, als Fischer-Dieskau, mit Daniel Barenboim am Klavier, in Tel Aviv Schuberts «Winterreise» und mit ihr die deutsche Sprache, bislang in der Öffentlichkeit verpönt, offiziell und vor Tausenden von Ohren rehabilitierte. Selbst Beethovens Schlusschor der 9. Sinfonie sang man damals nicht auf Schiller-Deutsch, sondern auf Englisch.
Fischer-Dieskau beschrieb die Spannung, die über diesem Konzert lag. Allein schon vom Podium in den Saal zu sehen, in die alten Frankfurter Augen, in die einst Berlin zugehörenden Gesichter, war für den Sänger bewegend genug. Was aber würde nun wohl passieren, wenn beim Vortrag des «Lindenbaum» ein Zuhörer plötzlich aufspringen und «Auschwitz» rufen würde? Diese Überlegung konnte nicht nur Sängern die Stimme verschlagen. Fischer-Dieskau nahm die Gefahr in Kauf. Deutschland stand und steht in seiner (und Barenboims) Schuld. Fischer-Dieskau sah sich später ganz zu Recht mit dem «Pour le Mérite» ausgezeichnet.
Die Weltmusik hat wohl noch nie einen Künstler von der Vielfalt, dem Wagemut, dem Fleiß, der Einsatzfreude, dem Kenntnisreichtum, der Vollendung Fischer-Dieskaus gekannt. Neben seiner schier enzyklopädischen Durchforstung unserer Lieder steht seine ungeheure Gestaltungskraft als Opernsänger: eine darstellerische Magie, die der seines Singens glücklich die Waage hält.
Doch damit noch längst nicht genug. Fischer-Dieskau ist als Autor mit einer Fülle gewichtiger Bücher hervorgetreten. Er ist ein Musik-Pädagoge von Rang, dem die höchsten Begabungen zustreben. Wie den jungen Sängern hatte er sich zuvor schon für die Komponisten der Neuen Musik eingesetzt: Benjamin Britten, Hans Werner Henze, Aribert Reimann. Er wies damit ein für alle Mal nach, dass Modernes zu singen der Stimme durchaus nicht schadet, wie immerfort behauptet wird. Außerdem dirigiert Fischer-Dieskau. Er malt Bilder von starker Intensität. In seinem Reich der Kunst geht die Sonne nicht unter. Sie erlischt höchstens auf sein Geheiß.
Es spricht im Grunde gegen die geistlose Geschäftigkeit der deutschen Opernszene, dass sie Fischer-Dieskau in den selbst gewählten Ruhestand ziehen ließ. Er war es einfach leid, auf Anweisung mehr oder minder Musik unkundiger Regisseure den Opern-Kasper spielen zu müssen. Allem künstlerisch Neuen seit eh und je aufgeschlossen, versagte er sich einzig und allein dem modisch neugewandeten Blödsinn: dem eingerissenen Auf-den-Kopf-stellen des Traditionellen, der den Werken eingeborenen Handlungsvernunft. Er gelangte zu einer Resignation von außerordentlicher Fruchtbarkeit. Er kehrte zum Dirigieren zurück, er fand den Weg zur Rezitation, vom Unterricht in der Abgeschiedenheit von Hochschulräumen zu höchst lehrreichen Meisterklassen in aller Öffentlichkeit.
Er war seit eh und je ein Künstler der Unersättlichkeit, resultierend auf grenzenloser Neugier, Erprobungs- und Nachahmungslust. In Tokio, in einem Hotelzimmer, führte er mir tatsächlich demonstrativ den Unterschied des Singens im japanischen No-Theater zu dem des Kabuki vor. Er konnte einfach nicht stille halten, wenn sich eine Kunst-Expedition, wohin auch immer, formierte. Er marschierte höflich mit - an der Spitze. Nie war er sich zu schade, nie fürchtete er eine Blamage, nie war ihm ein Arbeitsaufwand zu viel. Er verstand allein schon Respekt einzuflössen durch den Anspruch, den er an sich stellte, ausdauernd beibehielt und erfüllte.
Fischer-Dieskau erschien vielen als der zum Künstler berufene Übermensch. Das hielt die Mitwelt auf Distanz. Als ich ihn einmal fragte, warum er nie in einer der populären TV-Talk-Shows aufgetreten sei, nicht bei Kulenkampff, Elstner, Gottschalk, antwortete er, es habe ihn in den mehr als fünfzig Jahren seiner internationalen Karriere nie ein deutscher Sender danach gefragt.
Ich hatte die Freude und Ehre, gemeinsam mit Klaus Lindemann einen Fernsehfilm über Fischer-Dieskaus Arbeit drehen zu dürfen: einen Film der Beobachtungen, des Belauerns, der Hochachtung. Wie Fischer-Dieskau eine Stunde vor Beginn seiner weltweit bewegenden Liederabende die Bühne inspizierte, mit eigener Hand den Flügel in die günstigste Position rücken half, die Scheinwerfer kontrollierte, dem Licht auf die Sprünge half.
Wie er in den letzten Minuten vor dem Auftritt sich an der Seite seines begleitenden Pianisten hoch konzentriert in die Kulisse verzog, sich ein letztes Mal auf Schubert, auf Brahms, auf Mahler geistig zu versammeln; wie er am Ende des Konzerts mutterseelenallein durch lange, leere Gänge in seine Garderobe davonging, von niemandem aufgehalten oder bedankt, bis auf die herbeistürmende Julia Varady, seine Frau.
Wie viel Einsamkeit beim stunden-, tage- und wochenlangen Rollenstudium so anspruchsvoller Werke wie Henzes «Elegie für junge Liebende» oder Reimanns «Lear», Welterfolge, die er zur Uraufführung gebracht hat. Welche Hingabe an Brittens «War Requiem» in der wiederaufgebauten Kathedrale des von deutschen Bomben einst «ausradierten» Coventry. Welche Sorgfalt, Kompetenz, Stetigkeit bei der ersten kompletten Einspielung aller Schubert-Lieder für Männerstimme.
«Singen, wenn man gut bei Stimme ist, kann jeder», hat Fischer-Dieskau einmal ironisch angemerkt. «Aber wann ist man das schon? Die Kunst des Singens besteht ja gerade darin, über alle Beeinträchtigungen hinwegzukommen, sie zu vertuschen, sie keinen Takt lang aufscheinen zu lassen.» Darin besteht vielleicht sogar Fischer-Dieskaus höchste Kunst: im Nicht-aufscheinen-lassen aller erdenklicher, überwundener Schwierigkeiten. Der Mann ist ein Stoiker; unerschütterlich, unbeugsam, voll philosophischem Gleichmut. Als er gerade sein erstes großes Buch, die 371 Seiten «Auf den Spuren der Schubert-Lieder», beendet hatte (viele weitere Spurensuchen sollten ihm folgen) und das Manuskript auf dem Tisch seines Zimmers in einem Londoner Luxus-Hotel lag, packte es versehentlich ein unaufmerksames Zimmermädchen und warf es weg.
Man durchstöberte den Müll des Riesen-Hotels. Der Text blieb unauffindbar verschwunden. Am nächsten Tag, Hut ab!, begann Fischer-Dieskau sein Buch ein zweites Mal zu schreiben. Es liegt inzwischen erweitert unter dem Titel «Schubert und seine Lieder» in neuer Auflage vor. Gleichzeitig kommt seine gesungene Kollektion all dieser Lieder auf 21 CDs neu heraus. Welche Lebensleistung!
Dabei ist Fischer-Dieskau mit dem heutigen Tag gerade erst 75. Wir dürfen in diesem Augenblick nicht einzig ihm, wir müssen vor allem uns selbst dazu gratulieren