Große germanische Gefühle
Obwohl dort nahezu unbekannt, nahm Christian Thielemann das Pariser Konzertpublikum im Sturm
Von Michael Horst

Er sei «der neue Star unter den internationalen Dirigenten», pries ihn das Magazin «Elle». «Der unbestreitbare Erbe der deutschen Orchestertradition», wie die Pariser Zeitung «La Tribune» verkündete. «Mit dem Aussehen eines preußischen Offiziers, mit stahlblauen Augen und kurzen, blonden Haaren», wie Madame «Figaro» erstaunlicherweise dichtete. So viel Vorschusslorbeeren machen verdächtig - in der Tat: «Christian Thielemann ist in Frankreich nahezu unbekannt», sagt Dominique Meyer. Trotzdem hat der Intendant des Théâtre des Champs Elysées, dem Dirigenten aus gemeinsamen Genfer Tagen freundschaftlich verbunden, das Orchester der Deutschen Oper mit seinem Chef an die Seine geholt - für zwei Konzerte, die bewusst die Stärken des Bayreuth-Aufsteigers Thielemann ausspielen sollten. Vorsichtshalber federte Meyer das Debüt des Newcomers mit zwei attraktiven Sängernamen, Julia Varady und Kurt Moll, ab.

Es gab Wagner satt, ergänzt durch die erste Symphonie von Brahms. Wie vorgesehen, glänzten die ausdrucksstarke Sopranistin, in Berlin bedauerlicherweise nur noch äußerst selten zu hören, als Sieglinde und der stimmmächtige Bassist als Hunding im ersten Akt der «Walküre», während der Bayreuth-erfahrene Poul Elming eher den Mangel an souverän singenden Wagner-Tenören unter Beweis stellte. Thielemann allerdings führte den staunenden Pariser Zuhörern vor, was Berlin seit langem kennt und schätzt: einen fulminanten Wagner-Krimi, erzählt mit großem Atem und untrüglichem Gespür für den dramatischen Bogen, mit sensibel modellierenden Händen für die hundert Klangfarben des Orchesters und hellwachem Ohr für die Sänger.

Für das Orchester der Deutschen Oper war der Kurztrip ins hochsommerliche Paris - zwischen «Tristan» und «Hans Heiling» sozusagen - eine attraktive, wenngleich kräftezehrende Abwechslung vom Berliner Alltag. Wohl organisiert von der mächtigen Konzertagentur Columbia Artists, spielten die 105 Musiker ihre ganze Opernerfahrung aus - ebenso bei den Ausschnitten aus der «Götterdämmerung», in denen Marilyn Zschau erfolgreich gegen die Orchesterwogen ansang, und den gesammelten Wagner-Vorspielen, die den zweiten Abend eröffneten. Auch in Brahms' Erster legte sich das Orchester mit vollem Elan und sattem Streicherklang ins Zeug, obwohl die breit angelegte, schwelgerisch aufblühende Deutung Thielemanns eher den Eindruck erweckte, als habe der listige Richard dem Rivalen Brahms in die Partitur gepfuscht.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg sah das Théâtre des Champs Elysées, ein Art-déco-Bau voller Charme und immerhin 1900 Plätzen, bei der Uraufführung von Strawinskys «Sacre du printemps» den größten Musik-Skandal der letzten hundert Jahre. Diesmal zeigten die Zuhörer mit Bravo-Rufen ihre Begeisterung für den Erben der deutschen «Kapellmeister»-Tradition und die aufgeheizten germanischen Gefühle. Und der Kritiker des Pariser «Figaro» ließ sein Loblied mit einem Stoßseufzer enden: «Endlich hat nach den anderen musikalischen Hauptstädten auch Paris den großen deutschen Dirigenten des 21. Jahrhunderts entdecken können.» Dem Orchester der Deutschen Oper dürfte solche Worte wie Balsam in den Ohren klingen. Und Thielemann ist sowieso fest entschlossen, dem Kollegen Barenboim das prestigeträchtige Feld der Auslandsgastspiele nicht mehr allein zu überlassen.
© Berliner Morgenpost 2001