Zum zweiten Mal geht Dietrich Fischer-Dieskau dieser Tage mit autobiografischen Aufzeichnungen an die Öffentlichkeit ("Zeit eines Lebens", Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart / München). Sie sind kritischer und bitterer ausgefallen als die ersten. Der große Sänger blickt nicht nur in Liebe und Wehmut zurück auf seine Laufbahn, er befasst sich kursorisch auch mit der hektisch von "event" zu "event" hetzenden Musikkultur heute und ihren Dekadenzerscheinungen: dem Qualitätsverlust, der Vereinsamung des Künstlers, dem Publikumsschwund und der Krise der Schallplattenindustrie. Er selbst hat Aufschwung und Blütezeit der Schallplatte nicht nur miterlebt und befördert, sondern auch daraus Nutzen gezogen: Fischer-Dieskau ist der Protagonist der Musikinterpretation im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit schlechthin. 1969 erschienen auf zwölf Vinyl-Schallplatten die ersten 172 Lieder seiner Gesamtaufnahme sämtlicher Schubert-Lieder. Allein neunmal, mit acht verschiedenen Pianisten, spielte er Schuberts "Winterreise" ein, mehr als viertausendachthundert Einträge verzeichnet seine Diskografie, die, in annähernd akribischer Vollständigkeit, von der passionierten Plattensammlerin Monika Wolf erstellt wurde: vom Konzertmitschnitt bis zum Rundfunkband, von der Studioproduktion bis zum Musikvideo (Verlag Hans Schneider, Tutzing). Es ist dies der umfangreichste Schallplattenkatalog, den ein Sänger je vorgelegt hat. F.A.Z.
Große Momente des Dietrich Fischer-Dieskau - so nennt
eine Ihrer Plattenfirmen eine Box mit Wiederveröffentlichungen.
Ich warte ja schon seit langem auf gewisse Stücke. Andere
Aufnahmen gibt es leider wieder doppelt, wie das so üblich
ist: dass man mit Dubletten dem Kunden den ganzen Spaß verdirbt.
Nun besitzt nicht jeder Plattenfreund alles, außerdem
sind viele Aufnahmen vergriffen...
...aber wer sich für Schubert interessiert, der hat meine
Sachen alle. Immerhin, die Plattenfirma hat bei der Edition nichts
auseinander gerissen. Das Programm des Klavierlieds in hundert
Jahren ist auch so geblieben, wie es war. So hoffe ich, dass die
Mahler-Lieder mit Barenboim endlich herauskommen werden, und was
sonst noch fehlt. Allerdings, man ist ja dann tot, wenn all diese
Aufnahmen endlich herauskommen.
Dank der technischen Reproduzierbarkeit lebt auch der reproduzierende
Künstler ewig weiter...
Ich hoffe nicht! (lacht)
Mir kommen lebenswerkspiegelnde Resümees wie diese Edition
immer so vor wie kleine Marmorklötze. Denkmalsockel oder
vorzeitige Grabsteine. Wie geht es Ihnen heute da oben auf dem
Sockel?
Ich bin hoffentlich zuweilen vom Podest heruntergestiegen. Zu
Anfang meiner Karriere hatte ich, wie das bei jungen Menschen
leicht der Fall ist, noch die Sucht, möglichst beides, Ruhm
und Breitenwirkung, zu erwerben. Das habe ich mir dann schnell
abgeschminkt. Schließlich muss ein Sänger auf der Bühne
tagtäglich bestehen - da gilt nicht, was vorher war. Da hilft
auch kein bekannter Name. Mit dem Ruhm zu leben ist eine andere
Sache. Ich wünsche mir natürlich schon, dass die Menschen,
auf die es mir ankommt, Notiz davon nehmen, was ich treibe. Doch
letzten Endes ist nicht einmal das wirklich wichtig. Wichtig ist,
dass man vor sich selbst besteht.
Sie haben Maßstäbe gesetzt für den Liedgesang,
aber zugleich auch als Oratorien- und als Opernsänger. Warum
ist diese Bandbreite bei den Sängern heute so selten geworden?
Nun, für Thomas Hampson etwa gilt das doch auch. Die Oper
war von Anfang an für mich wichtig; ich spürte, dass
ich für das Lied davon profitiere. Da geht es um Aspekte
der Expansion, die ja im Lied durchaus auch gegeben sind, ja,
sogar wahnsinnig oft vorkommen. Man muss das einfach parat haben:
allein schon die großen Crescendi vom einfachen Piano bis
zum vierfachen Forte. Das lernt man am besten, wenn man gezwungen
ist, nicht nur große, sondern vor allem musikalische Raume
zu füllen. Umgekehrt gibt es auch in der Oper viele liedhafte
Elemente. Man muss nur den Mut haben, leise zu werden. Und das
natürlich mit den Dirigenten möglichst absprechen...
Davon profitiert dann auch das Lied: Dass man weiß, was
noch trägt oder was wiederum schon zu wenig ist. Diese Säuselei,
die sich Otto Schenk in seiner Einmannshow erlaubt - er spielt
da den Requisiteur eines Theaters und macht sich lustig über
einen Liedersänger: Man hört nichts, man sieht nur die
Mundbewegungen - vielleicht hat er ja mich gemeint, ich weiß
es nicht. Fest steht jedenfalls: Auch der leiseste Ton muss noch
bis zum letzten Platz dringen. Und sei der Saal noch so groß.
Haben junge Sänger heute überhaupt noch Möglichkeiten,
diesen Doppelweg, Oper und Lied, von Anfang an einzuschlagen?
Oh, es gibt schon noch Ehrgeizige, die das geschickt anpacken.
Die sehr schnell durch Partnerwahl oder andere Mittel alles Mögliche
versuchen, um in die großen Säle zu kommen um sich
auszuprobieren. Was daraus wird, ist wieder eine andere Frage.
Es geht ja auch um die authentische Wahrheit der Menschendarstellung.
Da gibt es viele Sänger, die das vor sich hertragen und so
tun, als ob. Aber nicht im brechtschen Sinne, nicht aufklärend
und verfremdend, sondern als Fassade. Das spürt man. Wenn
da kein voller Einstieg da ist, sozusagen ein Brennen von beiden
Seiten der Kerze, dann kann mich das nicht überzeugen.
Heute müssen sich junge Sänger schon in der Ausbildung
früh spezialisieren. Und das Lied ist eine Klasse für
sich...
...und wird auch, glaube ich, immer eine sein. Ich lehre beides
zusammen. Was ich aber von meinen Lehrerkollegen erfahre, ist
wenig. Grundlegende technische Dinge werden im Studium oft nicht
mehr beachtet. Auch meine Frau Julia Varady beklagt sich oft,
was man ihren Schülern jahrelang hat durchgehen lassen und
worauf überhaupt kein Augenmerk mehr gerichtet wird. Das
Legato zu Beispiel kann kaum noch jemand. Dabei ist es doch eigentlich
die Voraussetzung für das gesamte romantische Repertoire.
Aber auch in anderen Genres gibt es die Notwendigkeit, legato
zu singen. Und zwar ohne Vernachlässigung der Konsonanten.
War die Ausbildung früher besser?
Anders. Entweder sind die Lehrer schläfrig und sagen nichts,
daraus wird dann ein langes Studium ohne Ergebnis. Oder die Ausbildung
ist zu kurz. Die jungen Sänger springen, wenn sie merken,
dass sie etwas können, aufs Podium, und die Lehrer sehen
sie nie wieder. Wenn jemand wirklich begabt ist, dann lässt
er natürlich alles hinter sich. Aber an den Theatern gibt
es heute auch nicht mehr die Korrepetitoren, die wir hatten: strenge
Leute, die wirklich auf dem kleinsten Detail beharrten, so lange,
bis es einigermaßen richtig wurde. Welche Repetitoren und
Dirigenten haben heute noch Ahnung von der Arbeit mit jungen Sängern?
Wenige.
Spielt nicht der Zeitdruck eine Rolle? Wird heutzutage kürzer
und deshalb weniger gründlich geprobt?
Ach, wenn etwas nicht passt, dann muss man es einfach sagen. Man
muss sich zur Wehr setzen, möglichst kurz und sachlich. Dann
kommt schon eine Reaktion. Die Dirigenten sind ja auch viel zu
erfolgsbedürftig, als dass sie guten Rat vernachlässigen
wollten. Ich habe jetzt dreimal mit Julia Varady die Straussschen
"Vier letzten Lieder" gemacht. Die sind immer zu laut.
Das ist so instrumentiert, dass unbedingt retuschiert werden muss,
sonst geht das Orchester über die Stimme. Sie hat es dann
noch einmal mit Eliahu Inbal in Wien gesungen. Das war auch erst
zu laut, dann haben sie sich kurz verständigt. Es kommt ja
nur auf die alte Operntechnik an, dass die begleiteten Stellen
leise sind und die unbegleiteten, lediglich vom Orchester gespielten
Stellen, laut sein dürfen. Das hilft enorm. Die Kapellmeister
haben es früher von selbst gemacht. Seit Georg Solti in den
frühen fünfziger Jahren seinen Gefühlen freien
Lauf und immerzu Forte spielen ließ, das heißt, alle
Forte-Zeichen immer genau erfüllte, so wie sie gedruckt stehen,
gibt es das nicht mehr.
Dann bieten heutzutage also Plattenaufnehmen, bei denen man
jedes Wort versteht, das "natürlichere" Klangbild
- verglichen mit Live-Konzert oder Oper live?
Ja, weil die Technik genau, manchmal zu genau hinhört und
die Mikrofone dem Sänger nachhelfen.
Der Komponist Wolfgang Rihm vertrat unlängst die Auffassung,
es sei in der Oper ohnehin nicht so wichtig, den Text zu verstehen...
Aber natürlich kam es früher allen Komponisten auf Textverständlichkeit
an! Bei Strauss, Verdi, Wagner - bei allen. Wagner hat das ja
auch notiert, überall finden Sie noch die kleinen Zettelchen
in Bayreuth, da kann man das nachlesen: "Bitte, meine Herrschaften,
vor der Premiere des Rings: Dass man ja alles hört und dass
nichts verschluckt wird!" Ich kann Rihm also darin nicht
zustimmen. Wenn das Publikum den Text in der Oper nicht versteht,
dann schläft es ein. Sofort. Dazu sind die Leute heute nicht
mehr musikalisch genug. Sie können die Strukturen nicht verfolgen,
sie wissen nicht, was in der Musik passiert, und lassen im Allgemeinen
nur einen impressionistischen Eindruck auf sich wirken. Da ist
es eine Hilfe, wenn der Text zu verstehen ist, so dass man sich
wenigstens ein bisschen auf die Inhalte konzentrieren kann. Ich
begrüße die neue Mode der Übertitelung in der
Oper. So gut sprechen die Sänger in der Regel nicht mehr
Italienisch, dass man bei Verdi-Opern alles versteht. Andererseits
gab es schon damals bei Verdi und Wagner einen gewissen Kampf
mit Sängern, die sich nur an ihrem schönen Organ erfreuen
wollten, an den blühenden Tönen, die da aus dem Hals
kamen - alles andere war ihnen egal.
Sie finden heute als Dirigent andere Arbeitsbedingungen vor
als damals, als Sie als junger Sänger anfingen. Würden
Sie sagen: Das Musikleben ist einem grundstürzenden Wandel
unterworfen?
Ich komme mir sehr unzeitgemäß vor, das stimmt schon.
Ich lebe in anderen Zeiten. Und wenn ich hinausgehe unter Menschen,
bin ich häufig etwas ratlos. Das gilt nicht nur für
das Musikleben, sondern für die Schulbildung und alles andere
auch., Man erhofft sich Wissen und Schnelligkeit der Auffassungsgabe
heute von Computern. Ob die uns alles ersetzen können? Ich
weiß es nicht. Allerdings: Von dem hohen technischen Standard
der heutigen Orchester kann ich nur profitieren. Es ist schon
toll, wie fortgeschritten die Spielweisen sind dank der historischen
Aufführungspraxis. Ob damit allerdings auch die Musizierfreude
und die Abenteuerlust einhergeht und was sonst noch dazugehört
- die Freiheit zur Improvisation, die Möglichkeit, sich wegzubewegen
vom Maschinellen und Metronomhaften - ist wieder eine andere Frage.
Aber die Aufführungspraxis wird es jedenfalls nicht sein,
was uns behindern wird für die nächsten zwanzig oder
dreißig Jahre. Wie kann eine Musikkultur weiterleben ohne
Nachschub, ohne Bewässerung, dass etwas Neues blühen
kann? Da sehe ich nicht, wie das weitergehen soll. Wir behandeln
ja heute unsere gesamte abendländische Musikgeschichte wie
die Japaner ihre eigene Musikkunst behandeln: abgetrennt, wie
im Getto. Nur noch im Kaiserlichen Palast spielt die Kaiserliche
Kapelle, da gehen wir mal hin, aber sonst lassen wir es eben bleiben.
Wer weiß, was bei uns in dreißig Jahren anstatt so
genannter klassischer Musik noch gehört werden wird?
Möglicherweise ist das Hören klassischer Musik quantitativ
verbreiteter als noch vor fünfzig Jahren. Hat sich also durch
die Schallplatte nur die Qualität das Hörens verändert?
Es gibt Ärzte, die den ganzen Tag in der Praxis laut oder
leise Klassisches dudeln lassen. Es dudelt überall, laut
im Auto, leise im Kaufhaus. Man sollte ich lieber beschränken
auf einige wenige Werke, die man immer wieder hört. Dann
würde man sie allmählich wirklich ins Gehirn gepresst
bekommen...(lacht) Ich glaube, die Behaltbarkeit der Musik hat,
seit Schönberg, größten Schaden erlitten. Musikverständnis
basiert auf Wiederholung. Das war ja das Schöne schon beim
Strophenlied, darüber hat sich bereits Goethe entsetzt, als
man sich davon entfernen wollte. Das Kurzzeitgedächtnis arbeitet
nicht mehr, wenn die Musik zu kompliziert wird. Einzelne, kräftige
Symbole funktionieren noch, etwa Zitate wie das "Wir arme
Leut" im Wozzeck. Aber rundherum gibt es so vieles, was gleich
wieder vollkommen aus dem Gedächtnis entschwindet. Das ist
der Verbreitung neuer Musik immer abträglich gewesen. Wenn
ich mich mit Aribert Reimanns "Lear" heute wieder neu
befassen würde, müsste ich wieder alles ganz von vorn
lernen. Das müsste ich wirklich wieder pauken. Was der Wirksamkeit
dieses Stückes natürlich nicht abträglich war,
denn die Musik hat starke Aussagekraft.
Sie haben sich eine Zeit lang sehr eingesetzt für die
neue Musik...
...ja, natürlich! Das war interessant, ich war neugierig.
Man weiß vorher nicht: Wie wird das ankommen? Werde ich
die Leute damit fangen können, wird sich das Publikum dafür
interessieren? Die Erkenntnis, ob etwas taugt oder nicht taugt,
wenn man im Stile von anderen immer wieder dasselbe reproduziert
- wie ich das, wenn ich male, manchmal versuche: beispielsweise
in die Liebermann-Zeit zurückzugehen oder nach Art von Macke
zu malen. Das muss sinnlos sein, weil es nichts wirklich Neues
ist.
Welchen Einfluss hat die technische Reproduzierbarkeit auf
die Interpretation?
Einen sehr großen. Wenn man sich selbst gegenübersteht
und sich korrigieren kann, ist auch gleichzeitig die Selbstkritik
geschärft, und man hangelt sich immer weiter nach oben. Mit
Verlusten unter Umständen: Es werden Vorurteile genährt
durch die mechanische Wiedergabe, die nicht eingelöst werden
können in einer spontanen Aufführung. Es werden Erwartungen
geweckt, die niemand erfüllen kann. Im Übrigen ist auch
ein Spiel- und Musizierideal entstanden, das sich immer mehr dem
Metronomhaften nähert. Ich denke da etwa an die Neunte unter
Claudio Abbado, wie sie am ersten Mai im Fernsehen erklungen ist.
Er hat die beethovenschen Metronomangaben zugrunde gelegt, dass
das sehr schnell geht, ist klar. Aber dass es auch im Zeitmaß
so durchexerziert wird, hinterlässt eine ziemliche Leere
im Ganzen. Während - um ein Gegenbeispiel zu bringen - neulich
die Neunte aus Mauthausen mit Simon Rattle und den Wiener Philharmonikern
übertragen, viel schöner in den Maßen war. Die
Wiener Philharmoniker waren fabelhaft. Da brachte übrigens
das Fernsehen eine unglaubliche Atmosphäre mit herüber.
Man sah diesen Steinbruch, in dem die Menschen gefoltert wurden...Und
man sah am Schluss die Leute ohne Beifall dasitzen nach all diesem
Freudenjubel. Sie saßen da still, jeder sein Kerzchen im
Schoß, in vollkommener, absoluter Ruhe. Viele Tausende.
Und Millionen sahen zu. Das ist schon erschütternd. Die Neunte
ist schließlich immer noch ein haariges Stück für
den Chor. Für die Solisten auch. Aber so ein Ereignis in
alle Häuser zu tragen, das ist schon etwas Besonderes. Es
funktioniert Besser als jedes Mahnmal, worum sich die Fachleute
streiten. Es erschüttert alle, die es erreicht. Und das Fernsehen
erreicht alle.
Das Gespräch führte Eleonore Büning.