Frankfurter Allgemeine Zeitung 26.5.2000

Betrachtungen eines Unzeitgemäßen
Behutsame Resignation und mancher Stolz auf ein großes Lebenswerk: Dietrich Fischer-Dieskaus Ansichten zum Musikbetrieb

Zum zweiten Mal geht Dietrich Fischer-Dieskau dieser Tage mit autobiografischen Aufzeichnungen an die Öffentlichkeit ("Zeit eines Lebens", Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart / München). Sie sind kritischer und bitterer ausgefallen als die ersten. Der große Sänger blickt nicht nur in Liebe und Wehmut zurück auf seine Laufbahn, er befasst sich kursorisch auch mit der hektisch von "event" zu "event" hetzenden Musikkultur heute und ihren Dekadenzerscheinungen: dem Qualitätsverlust, der Vereinsamung des Künstlers, dem Publikumsschwund und der Krise der Schallplattenindustrie. Er selbst hat Aufschwung und Blütezeit der Schallplatte nicht nur miterlebt und befördert, sondern auch daraus Nutzen gezogen: Fischer-Dieskau ist der Protagonist der Musikinterpretation im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit schlechthin. 1969 erschienen auf zwölf Vinyl-Schallplatten die ersten 172 Lieder seiner Gesamtaufnahme sämtlicher Schubert-Lieder. Allein neunmal, mit acht verschiedenen Pianisten, spielte er Schuberts "Winterreise" ein, mehr als viertausendachthundert Einträge verzeichnet seine Diskografie, die, in annähernd akribischer Vollständigkeit, von der passionierten Plattensammlerin Monika Wolf erstellt wurde: vom Konzertmitschnitt bis zum Rundfunkband, von der Studioproduktion bis zum Musikvideo (Verlag Hans Schneider, Tutzing). Es ist dies der umfangreichste Schallplattenkatalog, den ein Sänger je vorgelegt hat. F.A.Z.


Große Momente des Dietrich Fischer-Dieskau - so nennt eine Ihrer Plattenfirmen eine Box mit Wiederveröffentlichungen.
Ich warte ja schon seit langem auf gewisse Stücke. Andere Aufnahmen gibt es leider wieder doppelt, wie das so üblich ist: dass man mit Dubletten dem Kunden den ganzen Spaß verdirbt.
Nun besitzt nicht jeder Plattenfreund alles, außerdem sind viele Aufnahmen vergriffen...
...aber wer sich für Schubert interessiert, der hat meine Sachen alle. Immerhin, die Plattenfirma hat bei der Edition nichts auseinander gerissen. Das Programm des Klavierlieds in hundert Jahren ist auch so geblieben, wie es war. So hoffe ich, dass die Mahler-Lieder mit Barenboim endlich herauskommen werden, und was sonst noch fehlt. Allerdings, man ist ja dann tot, wenn all diese Aufnahmen endlich herauskommen.
Dank der technischen Reproduzierbarkeit lebt auch der reproduzierende Künstler ewig weiter...
Ich hoffe nicht! (lacht)
Mir kommen lebenswerkspiegelnde Resümees wie diese Edition immer so vor wie kleine Marmorklötze. Denkmalsockel oder vorzeitige Grabsteine. Wie geht es Ihnen heute da oben auf dem Sockel?
Ich bin hoffentlich zuweilen vom Podest heruntergestiegen. Zu Anfang meiner Karriere hatte ich, wie das bei jungen Menschen leicht der Fall ist, noch die Sucht, möglichst beides, Ruhm und Breitenwirkung, zu erwerben. Das habe ich mir dann schnell abgeschminkt. Schließlich muss ein Sänger auf der Bühne tagtäglich bestehen - da gilt nicht, was vorher war. Da hilft auch kein bekannter Name. Mit dem Ruhm zu leben ist eine andere Sache. Ich wünsche mir natürlich schon, dass die Menschen, auf die es mir ankommt, Notiz davon nehmen, was ich treibe. Doch letzten Endes ist nicht einmal das wirklich wichtig. Wichtig ist, dass man vor sich selbst besteht.
Sie haben Maßstäbe gesetzt für den Liedgesang, aber zugleich auch als Oratorien- und als Opernsänger. Warum ist diese Bandbreite bei den Sängern heute so selten geworden?
Nun, für Thomas Hampson etwa gilt das doch auch. Die Oper war von Anfang an für mich wichtig; ich spürte, dass ich für das Lied davon profitiere. Da geht es um Aspekte der Expansion, die ja im Lied durchaus auch gegeben sind, ja, sogar wahnsinnig oft vorkommen. Man muss das einfach parat haben: allein schon die großen Crescendi vom einfachen Piano bis zum vierfachen Forte. Das lernt man am besten, wenn man gezwungen ist, nicht nur große, sondern vor allem musikalische Raume zu füllen. Umgekehrt gibt es auch in der Oper viele liedhafte Elemente. Man muss nur den Mut haben, leise zu werden. Und das natürlich mit den Dirigenten möglichst absprechen... Davon profitiert dann auch das Lied: Dass man weiß, was noch trägt oder was wiederum schon zu wenig ist. Diese Säuselei, die sich Otto Schenk in seiner Einmannshow erlaubt - er spielt da den Requisiteur eines Theaters und macht sich lustig über einen Liedersänger: Man hört nichts, man sieht nur die Mundbewegungen - vielleicht hat er ja mich gemeint, ich weiß es nicht. Fest steht jedenfalls: Auch der leiseste Ton muss noch bis zum letzten Platz dringen. Und sei der Saal noch so groß.
Haben junge Sänger heute überhaupt noch Möglichkeiten, diesen Doppelweg, Oper und Lied, von Anfang an einzuschlagen?
Oh, es gibt schon noch Ehrgeizige, die das geschickt anpacken. Die sehr schnell durch Partnerwahl oder andere Mittel alles Mögliche versuchen, um in die großen Säle zu kommen um sich auszuprobieren. Was daraus wird, ist wieder eine andere Frage. Es geht ja auch um die authentische Wahrheit der Menschendarstellung. Da gibt es viele Sänger, die das vor sich hertragen und so tun, als ob. Aber nicht im brechtschen Sinne, nicht aufklärend und verfremdend, sondern als Fassade. Das spürt man. Wenn da kein voller Einstieg da ist, sozusagen ein Brennen von beiden Seiten der Kerze, dann kann mich das nicht überzeugen.
Heute müssen sich junge Sänger schon in der Ausbildung früh spezialisieren. Und das Lied ist eine Klasse für sich...
...und wird auch, glaube ich, immer eine sein. Ich lehre beides zusammen. Was ich aber von meinen Lehrerkollegen erfahre, ist wenig. Grundlegende technische Dinge werden im Studium oft nicht mehr beachtet. Auch meine Frau Julia Varady beklagt sich oft, was man ihren Schülern jahrelang hat durchgehen lassen und worauf überhaupt kein Augenmerk mehr gerichtet wird. Das Legato zu Beispiel kann kaum noch jemand. Dabei ist es doch eigentlich die Voraussetzung für das gesamte romantische Repertoire. Aber auch in anderen Genres gibt es die Notwendigkeit, legato zu singen. Und zwar ohne Vernachlässigung der Konsonanten.
War die Ausbildung früher besser?
Anders. Entweder sind die Lehrer schläfrig und sagen nichts, daraus wird dann ein langes Studium ohne Ergebnis. Oder die Ausbildung ist zu kurz. Die jungen Sänger springen, wenn sie merken, dass sie etwas können, aufs Podium, und die Lehrer sehen sie nie wieder. Wenn jemand wirklich begabt ist, dann lässt er natürlich alles hinter sich. Aber an den Theatern gibt es heute auch nicht mehr die Korrepetitoren, die wir hatten: strenge Leute, die wirklich auf dem kleinsten Detail beharrten, so lange, bis es einigermaßen richtig wurde. Welche Repetitoren und Dirigenten haben heute noch Ahnung von der Arbeit mit jungen Sängern? Wenige.
Spielt nicht der Zeitdruck eine Rolle? Wird heutzutage kürzer und deshalb weniger gründlich geprobt?
Ach, wenn etwas nicht passt, dann muss man es einfach sagen. Man muss sich zur Wehr setzen, möglichst kurz und sachlich. Dann kommt schon eine Reaktion. Die Dirigenten sind ja auch viel zu erfolgsbedürftig, als dass sie guten Rat vernachlässigen wollten. Ich habe jetzt dreimal mit Julia Varady die Straussschen "Vier letzten Lieder" gemacht. Die sind immer zu laut. Das ist so instrumentiert, dass unbedingt retuschiert werden muss, sonst geht das Orchester über die Stimme. Sie hat es dann noch einmal mit Eliahu Inbal in Wien gesungen. Das war auch erst zu laut, dann haben sie sich kurz verständigt. Es kommt ja nur auf die alte Operntechnik an, dass die begleiteten Stellen leise sind und die unbegleiteten, lediglich vom Orchester gespielten Stellen, laut sein dürfen. Das hilft enorm. Die Kapellmeister haben es früher von selbst gemacht. Seit Georg Solti in den frühen fünfziger Jahren seinen Gefühlen freien Lauf und immerzu Forte spielen ließ, das heißt, alle Forte-Zeichen immer genau erfüllte, so wie sie gedruckt stehen, gibt es das nicht mehr.
Dann bieten heutzutage also Plattenaufnehmen, bei denen man jedes Wort versteht, das "natürlichere" Klangbild - verglichen mit Live-Konzert oder Oper live?
Ja, weil die Technik genau, manchmal zu genau hinhört und die Mikrofone dem Sänger nachhelfen.
Der Komponist Wolfgang Rihm vertrat unlängst die Auffassung, es sei in der Oper ohnehin nicht so wichtig, den Text zu verstehen...
Aber natürlich kam es früher allen Komponisten auf Textverständlichkeit an! Bei Strauss, Verdi, Wagner - bei allen. Wagner hat das ja auch notiert, überall finden Sie noch die kleinen Zettelchen in Bayreuth, da kann man das nachlesen: "Bitte, meine Herrschaften, vor der Premiere des Rings: Dass man ja alles hört und dass nichts verschluckt wird!" Ich kann Rihm also darin nicht zustimmen. Wenn das Publikum den Text in der Oper nicht versteht, dann schläft es ein. Sofort. Dazu sind die Leute heute nicht mehr musikalisch genug. Sie können die Strukturen nicht verfolgen, sie wissen nicht, was in der Musik passiert, und lassen im Allgemeinen nur einen impressionistischen Eindruck auf sich wirken. Da ist es eine Hilfe, wenn der Text zu verstehen ist, so dass man sich wenigstens ein bisschen auf die Inhalte konzentrieren kann. Ich begrüße die neue Mode der Übertitelung in der Oper. So gut sprechen die Sänger in der Regel nicht mehr Italienisch, dass man bei Verdi-Opern alles versteht. Andererseits gab es schon damals bei Verdi und Wagner einen gewissen Kampf mit Sängern, die sich nur an ihrem schönen Organ erfreuen wollten, an den blühenden Tönen, die da aus dem Hals kamen - alles andere war ihnen egal.
Sie finden heute als Dirigent andere Arbeitsbedingungen vor als damals, als Sie als junger Sänger anfingen. Würden Sie sagen: Das Musikleben ist einem grundstürzenden Wandel unterworfen?
Ich komme mir sehr unzeitgemäß vor, das stimmt schon. Ich lebe in anderen Zeiten. Und wenn ich hinausgehe unter Menschen, bin ich häufig etwas ratlos. Das gilt nicht nur für das Musikleben, sondern für die Schulbildung und alles andere auch., Man erhofft sich Wissen und Schnelligkeit der Auffassungsgabe heute von Computern. Ob die uns alles ersetzen können? Ich weiß es nicht. Allerdings: Von dem hohen technischen Standard der heutigen Orchester kann ich nur profitieren. Es ist schon toll, wie fortgeschritten die Spielweisen sind dank der historischen Aufführungspraxis. Ob damit allerdings auch die Musizierfreude und die Abenteuerlust einhergeht und was sonst noch dazugehört - die Freiheit zur Improvisation, die Möglichkeit, sich wegzubewegen vom Maschinellen und Metronomhaften - ist wieder eine andere Frage. Aber die Aufführungspraxis wird es jedenfalls nicht sein, was uns behindern wird für die nächsten zwanzig oder dreißig Jahre. Wie kann eine Musikkultur weiterleben ohne Nachschub, ohne Bewässerung, dass etwas Neues blühen kann? Da sehe ich nicht, wie das weitergehen soll. Wir behandeln ja heute unsere gesamte abendländische Musikgeschichte wie die Japaner ihre eigene Musikkunst behandeln: abgetrennt, wie im Getto. Nur noch im Kaiserlichen Palast spielt die Kaiserliche Kapelle, da gehen wir mal hin, aber sonst lassen wir es eben bleiben. Wer weiß, was bei uns in dreißig Jahren anstatt so genannter klassischer Musik noch gehört werden wird?
Möglicherweise ist das Hören klassischer Musik quantitativ verbreiteter als noch vor fünfzig Jahren. Hat sich also durch die Schallplatte nur die Qualität das Hörens verändert?
Es gibt Ärzte, die den ganzen Tag in der Praxis laut oder leise Klassisches dudeln lassen. Es dudelt überall, laut im Auto, leise im Kaufhaus. Man sollte ich lieber beschränken auf einige wenige Werke, die man immer wieder hört. Dann würde man sie allmählich wirklich ins Gehirn gepresst bekommen...(lacht) Ich glaube, die Behaltbarkeit der Musik hat, seit Schönberg, größten Schaden erlitten. Musikverständnis basiert auf Wiederholung. Das war ja das Schöne schon beim Strophenlied, darüber hat sich bereits Goethe entsetzt, als man sich davon entfernen wollte. Das Kurzzeitgedächtnis arbeitet nicht mehr, wenn die Musik zu kompliziert wird. Einzelne, kräftige Symbole funktionieren noch, etwa Zitate wie das "Wir arme Leut" im Wozzeck. Aber rundherum gibt es so vieles, was gleich wieder vollkommen aus dem Gedächtnis entschwindet. Das ist der Verbreitung neuer Musik immer abträglich gewesen. Wenn ich mich mit Aribert Reimanns "Lear" heute wieder neu befassen würde, müsste ich wieder alles ganz von vorn lernen. Das müsste ich wirklich wieder pauken. Was der Wirksamkeit dieses Stückes natürlich nicht abträglich war, denn die Musik hat starke Aussagekraft.
Sie haben sich eine Zeit lang sehr eingesetzt für die neue Musik...
...ja, natürlich! Das war interessant, ich war neugierig. Man weiß vorher nicht: Wie wird das ankommen? Werde ich die Leute damit fangen können, wird sich das Publikum dafür interessieren? Die Erkenntnis, ob etwas taugt oder nicht taugt, wenn man im Stile von anderen immer wieder dasselbe reproduziert - wie ich das, wenn ich male, manchmal versuche: beispielsweise in die Liebermann-Zeit zurückzugehen oder nach Art von Macke zu malen. Das muss sinnlos sein, weil es nichts wirklich Neues ist.
Welchen Einfluss hat die technische Reproduzierbarkeit auf die Interpretation?
Einen sehr großen. Wenn man sich selbst gegenübersteht und sich korrigieren kann, ist auch gleichzeitig die Selbstkritik geschärft, und man hangelt sich immer weiter nach oben. Mit Verlusten unter Umständen: Es werden Vorurteile genährt durch die mechanische Wiedergabe, die nicht eingelöst werden können in einer spontanen Aufführung. Es werden Erwartungen geweckt, die niemand erfüllen kann. Im Übrigen ist auch ein Spiel- und Musizierideal entstanden, das sich immer mehr dem Metronomhaften nähert. Ich denke da etwa an die Neunte unter Claudio Abbado, wie sie am ersten Mai im Fernsehen erklungen ist. Er hat die beethovenschen Metronomangaben zugrunde gelegt, dass das sehr schnell geht, ist klar. Aber dass es auch im Zeitmaß so durchexerziert wird, hinterlässt eine ziemliche Leere im Ganzen. Während - um ein Gegenbeispiel zu bringen - neulich die Neunte aus Mauthausen mit Simon Rattle und den Wiener Philharmonikern übertragen, viel schöner in den Maßen war. Die Wiener Philharmoniker waren fabelhaft. Da brachte übrigens das Fernsehen eine unglaubliche Atmosphäre mit herüber. Man sah diesen Steinbruch, in dem die Menschen gefoltert wurden...Und man sah am Schluss die Leute ohne Beifall dasitzen nach all diesem Freudenjubel. Sie saßen da still, jeder sein Kerzchen im Schoß, in vollkommener, absoluter Ruhe. Viele Tausende. Und Millionen sahen zu. Das ist schon erschütternd. Die Neunte ist schließlich immer noch ein haariges Stück für den Chor. Für die Solisten auch. Aber so ein Ereignis in alle Häuser zu tragen, das ist schon etwas Besonderes. Es funktioniert Besser als jedes Mahnmal, worum sich die Fachleute streiten. Es erschüttert alle, die es erreicht. Und das Fernsehen erreicht alle.

Das Gespräch führte Eleonore Büning.