Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.09.2001, Nr. 203 / Seite
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Unverbesserliche Töne
Die Sopranistin Julia Várady wird sechzig
Sänger, wie er sie sich vorstelle, schrieb Verdi am 20.
Februar 1871 in
einem Brief an seinen Freund Giuseppe Piroli, sollten sich von
ihrem Gefühl
leiten lassen. "Das wäre ein Singen nicht nach dieser
oder jener Schule, sondern
der Inspiration. Solch ein Künstler wird ein Individuum
sein. Er wird er
selbst sein oder, besser noch, er wird der Charakter sein, den
er in der Oper
darzustellen hat." Allerdings müßten die Schüler
zuvor umfassende "Übungen der
Stimmproduktion und, wie in der Vergangenheit, lange Kurse in
Solfeggi auf sich
nehmen". Erst dann, wenn kein Lehrer sie in Fragen des vokalen
Stils mehr
verbessern könne, hätten sie die Freiheit, sich von
ihrem Gefühl leiten lassen.
Solche Anverwandlung hat die Sopranistin Julia Várady
als ihr Ziel
bezeichnet: eine Rolle so zu verkörpern, "als wär's
ein Stück von mir". Aber sie hat
auch betont, daß "die Stimme von selbst ihren Weg
wählt; ich muß ihr nur genau
folgen". Vor drei Jahren erst hat sie sich von der Bühne
verabschiedet. In
den knapp drei Jahrzehnten zuvor gehörte sie zu den herausragenden
Singdarstellerinnen der deutschen Opernbühne in einem alle
engen Fachgrenzen
überschreitenden Repertoire: mit lyrischen, dramatischen
und verzierten Rollen von
Mozart und Cimarosa, Verdi und Wagner, Offenbach und Halévy,
Strauss und Puccini,
Bartók und Reimann.
Julia Várady wurde im siebenbürgischen Grosswardein
geboren, besuchte in
Klausenburg das Gymnasium, erhielt Geigen-, Klavier- und, zunächst
als Altistin
eingeschätzt, Gesangsunterricht. Schon während ihrer
Studienzeit sang sie
sich durch die Fächer und Lagen. Bei einer Prüfung
des Stimmumfangs entdeckte
ihre Lehrerin, daß sie mühelos vom Mezzo-Fis auf das
dreigestrichene "d"
aufsteigen konnte. Peter Mario Katona hörte sie in Beethovens
Konzertarie "Ah!
Perfido" und machte Christoph von Dohnányi, damals
Opernchef in Frankfurt, auf
sie aufmerksam. Und sie empfahl sich mit den Arien der Abigaille
und der
Vitellia, die sie später in einer Aufnahme von "La
Clemenza di Tito" mit dem
Impetus eines dramatisch-virtuosen Soprans gesungen hat.
Schon in ihrem ersten Frankfurter Jahr übernahm sie Elvira,
Elisabetta,
Marguerite, Antonia, Saffi und das junge Mädchen in "Moses
und Aron". 1970 wurde
sie nach einem Vorsingen von Wolfgang Sawallisch und Jean Pierre
Ponnelle für
eine Neuinszenierung von "La Clemenza di Tito" an die
Bayerische Staatsoper
verpflichtet. Ihr Repertoire, in sorgsam bedachten Schritten
aufgebaut, war
immens. Zu Beginn standen Mozarts Partien im Mittelpunkt. Wie
ihre Aufnahmen
zeigen - Cecilio in "Lucio Silla", Elettra in "Idomeneo"
und Vitellia in
"Tito" - , folgte sie dem Rat, den Maria Callas ihren
Juilliard-Schülern gab:
Mozart nicht zu verzärteln, sondern stimmlich so anzugehen
wie Verdi und mit
dramatischer Verve zu singen.
Seit 1976 festes Mitglied des Ensembles der Bayerischen Staatsoper,
hat sie
die großen Verdi-Partien studiert, zunächst Leonora
in "Il Trovatore" und,
mit Carlos Kleiber, Desdemona (neben dem Otello von Carlos Cossutta).
An der
Deutschen Oper Berlin, ihrem zweiten Stammhaus, sang sie Violetta
und, in Hans
Neuenfels Inszenierung, Leonora in "La Forza del Destino",
dann auch Aida
neben Luciano Pavarotti. Das Jahr 1974 hatte in Puccinis "Il
Tabarro" die erste
intensive Zusammenarbeit mit Dietrich Fischer-Dieskau gebracht,
den sie 1977
heiratete. In das darauf folgende Jahr fiel die Uraufführung
des "König Lear"
von Aribert Reimann, mit dem sie einige sublime Liedaufnahmen
gemacht hat.
Im Vertrauen auf die Führung durch ihre Stimme, war sie
weise genug, sich
Zeit zu lassen bis zu hybriden Partien wie Lady Macbeth und Abigaille
in
"Nabucco", die Bellini-Agilität verlangen und
zugleich die ekstatische Phonation
hochdramatischer Partien. 1995/96 hat sie die Saison der Pariser
Opera Bastille
als Abigaille eröffnet und das Publikum, nach dem Bericht
der "Sunday
Times", in "rasende Erregung versetzt" - durch
die Intensität, mit der sie komplexe
Charaktere darstellt, durch "die psychische Qualität
des Tons".
Länger als ein Vierteljahrhundert hat sie sich auf die
Ensemblearbeit in
zwei Häusern - der Bayerischen Staatsoper und der Deutschen
Oper Berlin -
konzentriert und nur dann gastiert, wenn sie an einer neue Produktion
beteiligt
sein konnte. Ganz unzeitgemäß hat sie die Ansicht
vertreten, zur seriösen Arbeit
gehörten Zeit und Ruhe ebenso wie die Vertrautheit mit einem
Team; daß sich
musikalische Übereinstimmung ohne Proben nicht herstellen
läßt. In aller Welt
zu singen wie die Allzweckstars, womöglich ohne Probe, hat
sie abgelehnt.
Wohl deshalb hat sie in ihrer Glanzzeit nicht die Chance bekommen,
ihre
besten Partien von Verdi und Puccini - oder auch von Wagner (Senta)
-
aufzunehmen. Gleichwohl ist sie in einigen bedeutenden Produktionen
vertreten:
zauberhaft als Elisetta in Cimarosas "Il matrimonio segreto",
imponierend als
virtuos-dramatische Donna Anna in "Don Giovanni", bewegend
als ideale Rachel in
Halévys "La Juive". Hinreißend ihre Rosalinde
in der "Fledermaus", die es
(beinahe) schafft, Carlos Kleiber bei dem in die Temporaserei
getriebenen
"Friska"-Teil des Csárdás zu folgen;
und eine temperamentvollere Saffi im
"Zigeunerbaron" ist schwer vorstellbar.
Das Münchner Label Orfeo hat ihr in den neunziger Jahren
die Chance gegeben,
eine Spätlese zu ernten. In zwei Verdi-Recitals, von ihrem
Mann Dietrich
Fischer-Dieskau behutsam mitatmend begleitet, bewältigt
sie selbst extreme
Schwierigkeiten - Abigailles Rezitativ "Ben io t'invenni"
oder die Cabaletta der
Lady-Arie; und sie überwältigt im Cantabile durch die
Eloquenz und expressive
Intensität ihrer Darstellungen. Die Formung, Expansion und
Akzentuierung der
Kantilenen läßt spüren, daß sie von Maria
Callas inspiriert ist, ohne daß sie
je klangliche Effekte oder die expressiven Nachatmer imitieren
würde.
Zu den Spätaufnahmen gehören, wiederum mit Fischer-Dieskau
am Pult, Recitals
mit Musik von Wagner und Strauss. Noch im vergangenen Jahr hat
sie Arien aus
sechs Opern von Tschaikowsky aufgenommen. Mag auch dann und wann
ein feiner
Schleier über der Stimme liegen, so hat sie immer noch das
Gespür für jene
"psychische Tonqualität", um die Briefszene der
Tatjana oder die
Mitternachtsarie der Lisa in Seelengemälde leidender junger
Frauen zu verwandeln. Heute
wird Julia Várady sechzig Jahre alt.
JÜRGEN KESTING
Nicht nur eine Operndiva
Eine Geburtstags-CD der "Opernwelt" widmet sich der
Liedinterpretin JuliaVarady
Von Dieter Härtwig
Ungewöhnliches geschah zu Beginn der Spielzeit 1996/97
der Dresdner
Philharmonie: Das 1. Außerordentliche Konzert sollte sowohl
Wagner als auch dem
berühmten Künstlerehepaar Julia Varady (Sopran) und
Dietrich Fischer-Dieskau (am
Dirigentenpult) gewidmet sein. Doch ganz kurzfristig sagte die
Sängerin wegen
Indisposition ab. Eine nicht minder prominente Kollegin, die
tragischerweise
inzwischen verstorbene Sabine Hass, sprang ein und hatte einen
Riesenerfolg.
Dieser beflügelte Julia Varady, die großartige, aber
auch etwas kapriziöse
Künstlerin, offenbar derart, dass sie ihre Unpässlichkeit
überwand und sich für
den zweiten Konzertabend, den 15. September 1996, zurückmeldete.
Nach ihren
bezwingenden, souveränen Wiedergaben der "Hallen-Arie"
der Elisabeth aus
"Tannhäuser" und des Schlussgesanges der Brünnhilde
aus "Götterdämmerung" wurde
auch sie vom Dresdner Publikum mit Ovationen gefeiert - verdientermaßen.
Dresden hat leider die Operndiva, die morgen ihren 60. Geburtstag
feiert,
nicht live auf der Bühne erleben können. Nicht die
große Mozart-, Verdi- und
Puccini-Sängerin in ihrer Glanzzeit, nicht ihre Verkörperungen
der Tatjana in
Tschaikowskis "Eugen Onegin", der Senta im "Fliegenden
Holländer", der
Sieglinde in der "Walküre", nicht ihre Arabella
und Ariadne in den Strauss-Opern.
Dass sie 1978 in der Münchner Uraufführung von Aribert
Reimanns "Lear" die
Cordelia sang neben ihrem Mann, der damals die Titelpartie gestaltete,
war
seinerzeit in unseren Gefilden höchstens Insidern bekannt
wie auch die glanzvolle
Karriere Julia Varadys überhaupt. Nachdem sie Christoph
von Dohnÿnyi 1970 an
die Frankfurter Oper geholt hatte und sie drei Jahre später
an die Bayerische
Staatsoper München wechselte, teilte sie ihre Auftritte
zwischen Bühnen und
Festspielen in München, Westberlin, Hamburg, London, Edinburgh,
Salzburg,
Wien, Mailand, Paris, New York, Buenos Aires, Tokio.
Julia Varadys Domäne war die Opernbühne. Ihre Diskographie
bei verschiedenen
Labels belegt dies, ohne sie wirklich in ihren Glanzrollen zu
repräsentieren. Doch als nicht minder bedeutende Konzert-
und vor allem Liedersängerin ist
sie längst nicht so ins Bewusstsein der Öffentlichkeit
gedrungen, wie es
ihren ebenso stilistisch erfüllten, kammermusikalisch subtilen
wie gestalterisch
eindringlichen Interpretationen zukommt. Umso verdienstvoller
ist es, dass
die Fachzeitschrift "Opernwelt" ihre "CD 2001"
der Künstlerin mit Liedaufnahmen
widmet. Diese machte sie mit dem Komponisten und Pianisten Aribert
Reimann
am Klavier in den Jahren 1975 und 1983 - auf dem Höhepunkt
ihrer Kunst. Mit
ihrem imponierenden stimmlichen Volumen, zudem in den Originalsprachen
Ungarisch und Russisch gesungen, bietet sie Bartks Liederzyklen
op. 15 und 16 sowie
Lieder von Kodÿly, Prokofjew (op. 27) und Mussorgskis beliebte
"Kinderstube"
dar. Bewundernswert, wie die Kontraste in Tonfall- und Stimmklangwechseln
in
den einzelnen Liedern herausgearbeitet sind, mit welcher Affinität
zur
spezifischen Tonsprache der Komponisten von den Interpreten musiziert
wird. Selbst
der Klavierpart ist als autonome Komponente aufgefasst. Fazit:
Ein Plädoyer
für die Liedinterpretin Julia Varady und zugleich für
die Qualität der von ihr
ausgewählten Kompositionen.
Informationen zur Varady-CD nur über die "Opernwelt"-Redaktion,
Tel.: (030)254 49 50
Julia Varady macht sich zum 60. ein Geschenk
Sie war die Tatjana im "Eugen Onegin"
und leidenschaftlich-unbedingte "Pique
Dame"-Lisa
Gesang als kontrollierte Passion - kaum eine Sopranistin unserer
Zeit hat
dieses Ideal so sehr verkörpert wie Julia Varady, die am
Samstag 60 Jahre alt
wird. Vor allem als Verdi-Heroine und Mozart-Interpretin steht
sie einzigartig
da. Die glücklichen Opernhäuser in München und
Berlin wurden lange vom
Schönklang, der Ausdrucksfülle und dem innigen Ton
dieser unverwechselbaren Stimme
geprägt. Treu gegenüber ihrem sie liebenden Publikum
und dem Jetsetting
abgeneigt, wurde sie von der Plattenindustrie so sträflich
vernachlässigt wie
keine andere Sänger dieser Qualität in den letzten
30 Jahren. Obwohl sie sich
1998 von der Bühne zurückgezogen hat, kehrt sie am
16. September in Wien noch
einmal als Abigaile im "Nabucco" zurück. Und im
Studio ist diese einzigartige
Sängerin gottlob nach wie vor aktiv. Sich selbst hat sie
zum Geburtstag eine
Arien-CD von Tschaikowsky geschenkt (Orfeo C 540 011 A). Als
anrührende
Tatjana im "Eugen Onegin" und leidenschaftlich-unbedingte
"Pique Dame"-Lisa kannte
man Julia Varady. Wertvolle Auschnitte aus "Die Jungfrau
von Orléans",
"Mazeppa" und "Die Zauberin" bereichern nun
wundervoll das weitgespannte
Repertoire dieser Stimme aus Rumänien (ungarischer Abstammung),
die sich hier auf
russisch direkt ins Herz singt.
bru / DIE WELT 01.09.01 |