
Wie man steinharte Nüsse knackt
Schönbergs "Moses und Aron"
mit Fischer-Dieskau und Nagano in der Philharmonie
Von Carsten Gerhard
Berlin - Zur Zeit ist Schönberg-Zeit.
Die Festwochen werden um ihn kreisen, Rattle und Abbado widmen
sich den "Gurreliedern" und dem "Überlebenden
aus Warschau". Das Deutsche Symphonie-Orchester hat schon
in dieser Saison damit angefangen, das Riesenpanorama der Schönbergschen
Kunst aufzufächern, und mit einem etwas eigenwilligen "Pierrot
Lunaire" (mit der entzückt-entzückend kreischenden
Kindfrau Meret Becker in der Sprechrolle) immerhin heiße
nachkonzertliche Diskussionen ausgelöst.
Und nun also "Moses und Aron" in einer konzertanten
Aufführung in der Philharmonie, nachdem sich szenisch bereits
in der letzten Saison die Deutsche Oper daran versucht hat. Nagano
hat für seinen "Moses" eine Spitzentruppe zusammengetrommelt:
Vorneweg Dietrich Fischer-Dieskau in der Sprechrolle des Moses,
mit seiner noch immer klar strömenden balsamischen Stimme
und einer fest zupackenden, machtvollen Deklamation.
Dann, in der Tenor-Partie des
Aron, Daniel Kaasch, dessen enge, aber ungeheuer biegsame Stimme,
die auch beim freien Fall durch die Register-Extreme noch präzise
und sicher ist, den Aron fast zum verdächtigen Demagogen
macht. Als Priester fungierte der hinreißende Kwangchul
Youn von der Staatsoper, mit einem so kraftstrotzenden Bass,
dass die Gesangslinien vor lauter eruptiver Energie heftig ins
Vibrieren geraten. Mit Spannung erwartet: die Leistung des Rundfunkchores
unter ihrem neuen, mit Vorschusslorbeeren bedachten Chefdirigenten
Simon Halsey, eine Empfehlung Simon Rattles, der mit Halsey in
Birmingham zusammengearbeitet hat und der mit diesem Einstand
gleich eine steinharte Nuss der Chorliteratur zu knacken hatte.
Die Oper ist um den Chor der Juden herum komponiert, um den Moses
und Aron mit ihren unterschiedlichen Gottesvermittlungsversuchen
konkurrieren. Der Rundfunkchor brillierte da in darstellerischer
Bandbreite: von ekstatischen Turbulenzen, wo das Ensemble in
unzählige, trotzdem durchhörbare Kleinteile zerfällt,
bis hin zur überscharf gezeichneten einstimmigen Deklamation.
Ein schweres Stück Arbeit, bravourös gemeistert.
Nagano schließlich, mit
seinem DSO, zwang alles, formbewusst und detailgenau zur großen
Opernplastik zusammen: Liebevoll, akribisch ausgehorcht die Wiedergabe
der pedantisch ausgefeilten Aron-Passagen, blockhaft-dröhnend
die gnadenlos statischen Moses-Teile. Berlin - es lebe der Synergieeffekt
- ist in diesem Jahr heißes Schönbergpflaster. Trotz
aller Dauerkrisenstimmung in der Berliner Kultur: hier gewinnen
mal alle Beteiligten. Vor allem das Publikum.
DER TAGESSPIEGEL 2.6.2001
Berliner Philharmonie
Also sprach Fischer-Dieskau
Aufführung von Schönbergs "Moses und Aron"
Jörg Königsdorf
Für Momente singt dieser Moses doch. Immer dann, wenn der
Schmerz des Propheten über die Torheit des eigenen Volks
und die Schwäche seines Bruders Aron ihn zu überwältigen
scheint, dehnt Dietrich Fischer-Dieskau seine sonore Deklamation
ganz eben in den Bereich des Gesangs hinüber, bringt für
Momente seine immer noch wohltönende, runde Baritonstimme
zum Klingen. Das ist freilich kein Überschwang des Affekts,
sondern die genaue Kalkulation des Künstlers. Denn der Moses
in "Moses und Aron" darf nach dem Willen des Komponisten
nicht singen, im Gegensatz zum törichten Volk Israel spricht
er als einziger mit der Stimme der Vernunft. Zur Krönung
seiner ersten Saison als Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters
hatte Kent Nagano Schönbergs große, unvollendete Oper
ausgesucht, und schon von Beginn der konzertanten Aufführung
in der Philharmonie an ist klar, dass der "Moses" durch
den Verzicht auf die Bühne sogar noch gewinnt. Denn wohl
nur im Konzert lässt sich die unbedingte Genauigkeit im
Zusammenspiel von Orchester und vielstimmig aufgesplittertem
Chor erzielen, die das Werk zum oratorischen Hörtheater
werden lässt.
Die Gratwanderung gelingt an diesem Abend auf faszinierende
Weise: Um wieviel bildhafter, visionärer klingen hier schon
die züngelnden Stimmen aus dem Dornbusch, die dem Propheten
seine Bestimmung enthüllen, als etwa in der szenischen Umsetzung
an der Deutschen Oper. Um wieviel packender die gegenläufigen,
angstdurchpulsten Stimmen aus dem Volk, die doch wie Muskelfasern
zur großen Bewegung zusammenwirken. Und schließlich,
um wieviel triftiger, stilbewusster legt Fischer-Dieskau den
Propheten an als an der Deutschen Oper Rolf Boysen, der diese
Rolle mit postromantischem Theaterpathos auf Übermenschengröße
zu bringen versuchte. Fischer-Dieskaus Prophet ist wiederborstig,
räsonnierend, spitzfindig im Umgang mit seinem Bruder (Donald
Kaasch), ein Gefangener seiner Vernunft, dessen expressionistisch
übersteigerte Phrasen als verzweifelte Verrenkungen hörbar
werden, zur emotionalen Singsprache der anderen zu finden. Weder
Fischer-Dieskau noch der klar die Schnittkanten nachzeichnende
Nagano, noch der vom neuen Chef Simon Halsey auf bislang ungehört
wortdeutliche und klangdifferenzierte Weise einstudierte Rundfunkchor
erliegen jemals den Gefahren, die Musik durch romantischen Sound
zu verkitschen oder den Klanggesten durch bloßes nüchternes
Referieren das Leben zu entziehen. Manchmal gelten die Propheten
im eigenen Land eben doch etwas.
2.6.2001
Eine Frage des Gewissens
Schönbergs "Moses und Aron", unter Kent Nagano
in der Philharmonie aufgeführt
Wolfgang Fuhrmann
Vermutlich ist in keiner anderen Oper so viel vom "Gedanken"
die Rede wie in Arnold Schönbergs "Moses und Aron".
Die Oper gilt ja eher als ein Ort, wo geschwelgt und genossen
und im großen Gefühl gebadet werden soll. Das klingt
jetzt, als werde wieder über Berlin hergezogen, aber nein,
gemeint ist die Wiener Kultur, alles zum Genuss zu machen, eine
Kultur, die in ihrer heroischen Zeit eine wahre Gegenkultur der
Strenge und Reinheit des Denkens herausgefordert hat - man denke
an Kraus, Loos, Wittgenstein und eben Schönberg.
Schönberg hat dieser Idee auch eine theologische Dimension
verliehen. Die Zwölftonreihe konstituiert in ihrer abstrakten
Form, die alles in einer Komposition mit allem anderen in Beziehung
setzt, einen musikalischen Raum ohne Oben und Unten, Links und
Rechts. Der musikalischen Zeit enthoben, nur im sinnlichen Abglanz
fassbar, ist die Reihe so das Äquivalent zum göttlichen
Gedanken: "Moses und Aron" arbeitet sich an seinem
Thema auch kompositorisch ab.
Was erwarteten die vielen Menschen, die am Donnerstag in die
Philharmonie gegangen sind? Hoffte man auf die Reinheit des Gedankens,
für den Moses das Wort fehlt, oder zog man wie das Volk
Israel den Vermittler Aron vor, der den Gedanken fasslich und
plastisch macht und ihn so zugleich ermöglicht und verrät?
Es war außerordentlich, wie Kent Nagano die Farben der
Partitur entdeckte, ohne dem bloßen Glanz zu huldigen:
Sein Dirigat machte in jedem Moment deutlich, was Schönberg
unter "Klangfarbenmelodie" verstand, wo das Sinnlichste
und der in ihm zu Tage tretende Gedanke eins werden. Das Zwischenspiel
nach der ersten Szene in seiner lichten Instrumentation hatte
etwas fast Verspieltes, aber auch thematische Bezüge wurden
verdeutlicht. So schön und elegant hat man diese Partitur
noch nicht gehört, das oft jäh Auffahrende in Schönbergs
Musik schien gedämpft. Erst im zweiten Akt begann man sich
zu fragen, ob es der Partitur nicht etwas nimmt, wenn der Jubel
des Volkes über die Wiederkehr der alten Götter plötzlich
etwas Broadwayhaftes gewinnt. Aber angesichts der Qualität
des Deutschen Symphonie-Orchesters und des von Simon Halsey hervorragend
einstudierten, wenn auch kaum textverständlich singenden
Rundfunkchors Berlin konnte man nicht umhin, die Konsequenz dieses
Ansatzes zu bewundern. Man konnte schwelgen und genießen.
Weniger Genuss bescherten die beiden Protagonisten. Die Koloraturpartie
des Aron ist gewiss monströs schwierig, aber anmerken darf
man ihr diese Schwierigkeit nicht - Arons Infotainment lebt von
der Unangestrengtheit. Leider scheiterte Donald Kaasch gerade
daran. In der abschließenden Auseinandersetzung mit Moses
zeigte sich die Erschöpfung, hohe Töne wurden nur herausgebellt.
Dietrich Fischer-Dieskau hinterließ in der Sprechstimmen-Partie
des Moses einen seltsamen Eindruck. Hat man dem Sänger früher
auch den Vorwurf des Überdeklamierens gemacht, so sang Fischer-Dieskau
jetzt mehr, als er sprach. Die Gestalt des Moses, sein Ringen,
seine Ohnmacht, sein heiliger Zorn kamen nicht recht heraus.
Dieser Moses wirkte höchstens schlecht aufgelegt. |