Der singende Schatzsucher
Mit einem tiefen Griff in die Archive ehren die Plattenlabel Dietrich
Fischer-Dieskau zum 75. Geburtstag
Von Michael Horst
Man muss die Feste feiern, wie sie fallen. Nach diesem Motto pflegen auch die Plattenfirmen ihre Jubilare zu beglücken. Und wer wäre dazu besser geeignet als Dietrich Fischer-Dieskau, der Weltmeister des Liedgesangs, der unermüdliche Forscher und musikalische Wünschelrutengänger, der in seinem langen Künstlerleben annähernd 3000 Lieder erst in sein Repertoire und dann oft auch auf Platte aufgenommen hat.
War es die EMI, die bereits zum 70. Geburtstag des Baritons vieles bis dahin Unauffindbare unter dem sprechenden Titel «Les Introuvables de Dietrich Fischer-Dieskau» dem Dämmerschlaf entrissen hatte, so hat zum 75. Geburtstag am kommenden Sonntag die Deutsche Grammophon Nägel mit Köpfen gemacht. Auf 21 CDs kommen Aufnahmen wieder zum Vorschein, die teilweise seit 20 Jahren nicht mehr auf dem Markt waren - von Kennern gepriesen, aber höchstens antiquarisch als LP zu ergattern. Der Grund lag in der Geschäftspolitik der Plattenlabels: Wo Fischer-Dieskau in späteren Jahren Gesamtaufnahmen der Lieder von Schubert, Schumann, Brahms, Wolf und Strauss in Angriff genommen hatte, wollte man sich nicht selbst mit den älteren Aufnahmen Konkurrenz machen. Zum anderen hatte der Sänger mancherlei Raritäten - wie die Lieder von Wilhelm Kempff, Bruno Walter oder Enrico Mainardi - aufgespürt, die nie und nimmer zu einem Verkaufserfolg werden konnten. Das gilt besonders für die enzyklopädische Reihe«Stilwandlungen des Klavierliedes 1850 - 1950».
Über 300 Lieder und Arien erstmals auf CD: So wirbt die DG für ihr Paket. Aber es ist nicht so sehr die Quantität, die hier zählt, sondern die Qualität der Aufnahmen. Denn die meisten der Wiederveröffentlichungen stammen aus der Frühzeit der Stereo-Ära, vom Ende der fünfziger Jahre bis zur Mitte der Sechziger, als Fischer-Dieskau den Zenit seiner stimmlichen und gestalterischen Möglichkeiten erreicht hatte, den er nie mehr übertreffen sollte.
Hört man etwa die Schumann- oder Brahms-Lieder von damals, dann versteht man, warum dieser Sänger, über die Suggestion des Bühnenraums hinaus, auch ein Schallplatten-Star wurde. Später gehörte es zum guten Ton, an Fischer-Dieskaus text-überladenem Interpretationsstil herumzukritteln. In jener Zeit war noch nichts davon zu spüren; hochsensible Wortausdeutung und prachtvolle Stimme hielten sich in traumwandlerischer Sicherheit die Waage. Das zeigt sich an den «Vier ernsten Gesängen» von Brahms genauso wie an den Miniaturen der Reger-Lieder, mit denen Fischer-Dieskau eine empfindliche Repertoire-Lücke schloss (und wieder schließt) oder dem skurrilen «Krämerspiegel» von Richard Strauss, in dem Alfred Kerr die geldgierige Musikverlags-Branche aufs Korn nahm.
Immer wieder war es Jörg Demus, der hier endlich in seinem Rang als intensiv gestaltender Partner am Klavier wiederentdeckt wird. Daneben stand oft Günther Weißenborn, der väterliche Mentor, Fischer-Dieskau pianistisch zur Seite. Oder er versicherte sich der Brillanz eines Karl Engel - wie in den sinnlich-überbordenden Liedern von Debussy und Ravel, bei dessen exotischen Chansons madécasses auch die erste Frau des Sängers, die Cellistin Irmgard Poppen, gemeinsam mit dem Flötisten Aurèle Nicolet von der Partie war. Sollte man noch einen Ausnahme-Begleiter nennen, dann wäre es Svjatoslav Richter, der sich 1975 mit dem Bariton in Innsbruck zu Mörike-Liedern von Hugo Wolf zusammen tat. Die geballte Energie, mit der sie dem «Feuerreiter» einheizen, dürfte von keiner anderen Aufnahme übertroffen worden sein.
Bleiben einige wenige CD allein für die Vollständigkeits-Fanatiker: eine weitere «Winterreise» (mit Barenboim), noch eine «Schöne Müllerin» (mit Gerald Moore), dazu die Opernhäppchen von Cimarosa, Mozart, Verdi oder Wagner, die aus Gesamtaufnahmen herausgeschnitten wurden. Immer noch bemerkenswert dagegen die französischen und italienischen Arien, bei denen der Feuerkopf Ferenc Fricsay das damalige RSO dirigierte (bei DG), und das Verdi-Album, das 1960 unter der Stabführung von Alberto Erede entstand (EMI). Eher von sammlerischem Wert sind ein «Falstaff»-Ausschnitt von 1951 (mit Josef Metternich) oder die Lortzing-Arien, mit denen sich Fischer-Dieskau unversehens auf das Terrain der Konkurrenten Hermann Prey begab. Dagegen füllt die Wiederveröffentlichung von Aribert Reimanns «Lear», jenem Meilenstein des modernen Musiktheaters von 1978, endlich eine empfindliche Lücke im Katalog.
Die Dietrich-Fischer-Dieskau-Edition. Lieder und Arien von Bach, Beethoven, Schumann, Brahms, Reger, Pfitzner, Strauss, Schoeck u. a. Jörg Demus, Günther Weißenborn, Karl Engel u. a. (Klavier). 21 CD. Deutsche Grammophon.
Aribert Reimann: Lear. Mitschnitt der Uraufführung 1978. DG.
Great Moments of Fischer-Dieskau. Der Opern-, Konzert- und Liedersänger. 3 CD. EMI.
Lieder. Stilwandlungen des Klavierlieds 1850 - 1950. Aribert Reimann, Hermann Reutter, Klavier.
3 CD. EMI.
Der Bariton Dietrich Fischer-Dieskau wird am Sonntag 75 Jahre alt
Die Lieder beim Wort genommen
Von JOACHIM MISCHKE
Hamburg - Aus seiner kindlich erträumten Wunschkarriere
als Heldentenor ist nichts geworden, doch das dürfte niemanden
stören. Er sei das Beste und Größte, was ihm im
Baritonfach je begegnet sei, staunte der Dirigent Fritz Busch
über den jungen Dietrich Fischer-Dieskau, nachdem er ihn
an der Städtischen Oper Berlin erlebt hatte. Inzwischen -
nach 48 Jahren als Sänger, rund 400 Platten, gut 500 Opern-
und wohl mehr als 1000 Liederabenden, unzähligen Ehrungen
und Lobeshymnen - kann "FiDi", der am Sonntag seinen
75. Geburtstag feiert, auf einen einzigartigen Lebenslauf zurückblicken.
"Mir geht es vor allem darum, nicht irgendeine Wiedergabe
von Stücken zu bieten, sondern eine Wiedergeburt des Werks
im Konzertaugenblick zu erreichen." Ein kleiner, aber entscheidender
Unterschied. Singen nicht als möglichst ästhetische
Tonablieferung, sondern als "geistiges Tun", darin liegt
eine von vielen möglichen Erklärungen für die epochale
kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung dieses deutschen Sängers.
Schon seine ersten Liederabende im Berliner Titania-Palast gab
Fischer-Dieskau vor ausverkauftem Haus; es waren die ersten Nachkriegsjahre,
Musik war Orientierungshilfe, ein gierig verschlungenes Heilmittel
für die tiefen Wunden. Später kamen seine Zuhörer
auch aus anderen Gründen.
Ohne sein kluges, energisches Engagement hätten es einige
Werke des romantischen Lied-Repertoires wohl viel schwerer gehabt,
sich seit jenen Jahren im Konzertleben wieder und fest zu etablieren,
insbesondere der von ihm beharrlich ins Rampenlicht gerückte
Hugo Wolf wäre über den Fußnoten-Status nicht
hinausgekommen. Fischer-Dieskau war als Sänger ein Oberklasse-Anwalt
des gedichteten Wortes und somit auch nicht immer vor Manierismen
gefeit; das Heitere auf der Opernbühne hatte bei ihm hin
und wieder bleierne Schwere, die Rolle des volkstümelnden
Stimmungskanoniers überließ er klugerweise dem Kollegen
Hermann Prey.
Sänger-Persönlichkeiten wie er, die denken, fragen,
zweifeln und suchen, bevor sie die Stimme erheben, sind auch bei
lebenden Komponisten beliebt: Fischer-Dieskaus Kunst spornte Hans
Werner Henze an, für ihn seine "Elegie für junge
Liebende" zu verfassen, Aribert Reimanns "Lear"
(1978) war eine komplexe One-Man-Show für einen Altmeister
seines Fachs. Es gab fast nur wenig Lohnendes, was Fischer-Dieskau
nicht gesungen hat, von Schumann-Raritäten bis zu Liedern
von Pfitzner, Ives oder Reger. Seine musikalischen Weggefährten:
Pultgrößen wie Furtwängler, Fricsay oder Böhm,
Pianisten wie Moore, Demus, Richter, Brendel, Barenboim. Weltweite
Begeisterung, alle großen Häuser standen ihm offen.
Entscheidend für sein Schaffen war nicht zuletzt das Vermittlungsmedium
Schallplatte, dass Fischer-Dieskau stets bewusst nutzte und einsetzte:
Nicht nur bei seinen Aufnahmen war er Perfektionist, er hatte
auch kein Problem damit, Tondokumente als vorbereitendes Lehrmaterial
zu verwenden wie andere eine Präsensbibliothek. Die Arbeit
im Studio war es, bei der Fischer-Dieskau seiner Suche nach dem
immer wieder fehlenden Detail gründlich nachgehen konnte.
Er war ein Perfektionist, der die eigene Unvollkommenheit als
Triebfeder brauchte - Schuberts "Winterreise" hat er
zehnmal aufgenommen. Zehnmal anders. Und wenn er noch könnte,
wie er wollte, würde er das gute Dutzend bestimmt voll machen.
Andererseits: Wo so viel einschüchterndes Licht war, herrscht
nun auch viel Schatten. Kronprinzen gibt es einige, der Lieder-Thron
jedoch ist verwaist.
"Ich hatte es satt, mich selbst zu imitieren", begründete
er 1992 sein Verstummen als Sänger. Längst hatte er
sich da, genauso diszipliniert, andere Ausdrucksmöglichkeiten
erarbeitet: Seit Jahren dirigiert er und bleibt als Rezitator
dem Wort treu, er malt und schreibt einfühlsame Musikbücher,
u. a. über Wagner und Nietzsche, Schumann - und die Kunst
des Gesangs. Die Suche nach der Wahrheit zwischen den Zeilen geht
für ihn weiter.
© 26.5.2000, Hamburger Abendblatt
Von Gerhard Bauer
An diesem Sonntag wird Dietrich Fischer-Dieskau 75 Jahre alt. Er ist ein musikalisches Universalgenie, doch lebt er im allgemeinen Bewusstsein vor allem als Liedsänger: Ein Textgestalter von höchstem Intellekt, ein Bariton von edelstem Timbre, ein Melodiker von sicherstem Instinkt - so ist Fischer-Dieskau vor über fünfzig Jahren gleichsam aus dem Nichts erschienen, so hat er sich bis zum plötzlichen (und freiwilligen) Ende seiner Karriere vor einigen Jahren bewahrheitet.
Wer nun Fischer-Dieskaus Liedkunst aus der Erinnerung holt und sich den Publikumsandrang zu seinen Konzerten vergegenwärtigt, wird in diesen Tagen aus der Trübsal kaum herauskommen. Denn justament die "MusikTriennale Köln" hat den Abstieg einer Musiziergattung in der Publikumsgunst erschreckend vorgeführt. Obwohl für die Gesänge des 20. Jahrhunderts die Elite der jungen und mittleren Interpreten-Garde in den WDR kam, blieb das Publikum aus: Es war nicht neugierig auf Künstler wie Vermillion, Prégardien oder Henschel, es wollte Musik von Rihm oder Reimann, von Dallapiccola oder Dessau nicht hören.
Und es wollte, frühere Kölner Lied-Zyklen bewiesen es, sogar Musik von Schubert und Richard Strauss nicht allzu gerne hören. Was hat dies nun mit Dietrich Fischer-Dieskau zu tun? Nun, die Befürchtung ist nicht abwegig, dass mit dem Künstler auch die Kunst altert, dass Verinnerlichung und Intimität unmodern werden, dass es Stille und In-Sich-Heineinhorchen nicht mehr geben wird.
Dietrich Fischer-Dieskau, ein ständig nach den letzten Dingen schürfender Meister von höchstem Ethos, trägt an der Entwicklung zum Flachen natürlich am allerwenigsten Schuld. Unsereinen allerdings, den die lebenslange Bewunderung von Fidis Kunst fast schon sprachlos gemacht hat, würde es schon freuen, gäbe es zum 75. Geburtstag eine schönere Zueignung.
Es gab nur glühende Verehrer und ebenso glühende Gegner.
Gleichgültig hat Dietrich Fischer-Dieskau die Musikfreunde
hierzulande nie gelassen. Die einen sahen in ihm den Inbegriff
des Liedinterpreten, der mit seiner akribischen Studienarbeit
die Symbiose aus textlicher und musikalischer Gestaltung auf eine
vor ihm unerreichte Spitze getrieben hat. Die anderen fanden,
er sei damit zu weit gegangen, habe sich jedenfalls vom puren
Schöngesang zu weit entfernt und allzusehr auf die Rhetorik
konzentriert.
Die Auseinandersetzungen über den Opernsänger Fischer-Dieskau
entfachten sogar noch intensivere Stürme und sorgten dafür,
daß der Künstler die Wiener Staatsoper nie zu seiner
Heimstätte machen wollte, während er in der Deutschen
Oper Berlin und im Nationaltheater München zu den Säulen
des Spielbetriebs zählte.
Wie auch immer: Die Kunst Fischer-Dieskaus hielt über Jahrzehnte
hin die Musikwelt in Atem. Neben seinen in unzähligen Platten-
und Filmdokumenten konservierten Liedauftritten galten auch musiktheatralische
Rollencharakterisierungen von Verdis Falstaff bis zu Wagners Telramund
als maßstabsetzend. Wenn Fischer-Dieskau sich in Grenzbereiche
vorwagte, als er etwa in München unter Sawallisch den Hans
Sachs in den "Meistersingern" sang, wurde das weltweit
kommentiert. Was immer er angriff, ehe er sich vor einigen Jahren
auf das Rezitieren zurückzog, erschien am Ende jedenfalls
penibel durchgestaltet und durch die subjektive Interpretenbrille
genauestens taxiert und analysiert. Vor allem auch zeitgenössische
Komponisten von Henze bis Reimann haben davon des öfteren
sehr profitiert. Kein Wunder, daß auch der Buchautor Fischer-Dieskau
höchstes Lob für seine genau recherchierten Arbeiten
- nicht nur in Sachen Lied und Oratorium - bekommen hat. Eine
unverwechselbare Gestalt der jüngeren Interpretationsgeschichte,
fürwahr, der hier zum Geburtstag gratuliert werden soll.sin
Dass Persönlichkeit und Kunst des Sängers über ihrer Zeit stehen, beweist eine andere Tatsache: Fischer-Dieskau braucht keine Werbung. Denn was er an Wundern des Klangs zaubert, spricht für sich - und geht direkt ins Herz. Welchem Genre auch immer sich der Musikfreund zuwendet - immer wieder wird ihm am Gesang dieses Poeten unter den Sängern ein Grundzug auffallen: die ungeheuer feine Zeichnung von Melodie und Text.
Das schafft Fischer-Dieskau, weil seine warme, voll tönende Stimme über ein betörendes Spektrum von Farben und ihren Abstufungen verfügt. Ob nun der fahrende Geselle in Schuberts "Winterreise" vor lauter Seelenweh an seiner Welt verzweifelt oder aber die Stimme in Beethovens Bearbeitung schottischer Volkslieder zu ausladender Pracht sich aufschwingt - die Kraft des Liedes reicht bis an die äußersten Grenzen von Welt und Gefühl.
Urgewalt eines Basses
Fischer-Dieskaus Überzeugungskraft und die Dauerhaftigkeit seiner Karriere erklärt sich als Summe glücklicher Einflüsse. Denn der Sänger, der in seiner Brust tenorale Strahlkraft und die Urgewalt eines Basses verbindet, begreift sein Künstlertum umfassend. Er ist Maler, aber auch Autor, wie etwa sein Debussy-Buch "Nachmittag eines Fauns" und die Monographie über Schumann belegen. Bei seinen Auftritten (er tritt seit 1993 nur noch als Dirigent auf) hat er immer aus dieser umfassenden (Herzens)-Bildung schöpfen können.
Alles dies hat der gebürtige Berliner, der heute am Starnberger See lebt, vor allem wegen seiner Disziplin erreichen können. 1955 gelang ihm die Aufnahme, mit der er den ersten von vielen Meilensteinen setzte: Unter Ferenc Fricsay sang er - als Papageno - eine Aufnahme der "Zauberflöte" mit ein, die noch heute Referenzcharakter besitzt. Bis hin zur freiwillig gesetzten Zäsur Anfang 1993 erreichte sein Repertoire das enzyklopädische Ausmaß von mehr als 3000 Liedern und 400 Schallplattenaufnahmen.
Besondere Verdienste erwarb sich der Feinsinnige mit der großen Ausdruckskraft um die Musik des 20. Jahrhunderts, so zum Beispiel um die Lieder seines Generationsgenossen und Mit-Berliners Aribert Reimann.
Dem Sänger zu Ehren
Zum Geburtstag Fischer-Dieskaus ehren die großen Plattenfirmen den Sänger. Während die EMI-Edition "Great Moments of Dietrich Fischer-Dieskau" auf je einer CD ihn als Opern-, Kantaten- und Liedsänger relativ kompakt darstellt, besticht die DGG-Kassetten mit 21 CDs durch die besondere Qualität und den umfassenden Charakter der zusammengestellte Einspielungen.
Viele Glanzlichter sind darunter, Interpretationen, die Schallplattengeschichte geschrieben haben: Schuberts "Schwanengesang" (mit dem großen Gerald Moore am Klavier) erklingt ebenso wie Schumanns "Dichterliebe" (mit Jörg Demus) und eine Perlenkette weltlicher und geistlicher Arien.
Christoph Hahn
Um Dietrich Fischer-Dieskaus Lebensleistung und einzigartige Karriere nachvollziehbar zu machen, ein paar Zahlen: Weit über 3000 Lieder hat er aufgenommen, darunter das komplette Liedschaffen von Schubert, Schumann, Brahms, Wolf und Strauss; in über 70 Operneinspielungen, mehr als 120 Oratorien, Chorwerken und Kantaten hat er mitgesungen; die Gesamtzahl seiner verkauften Schallplatten und CDs dürfte die 20-Millionen-Grenze überschritten haben.
Aber diese Zahlen sagen letztlich nichts über die eigentliche Bedeutung dieses Künstlers aus, der nach dem Krieg als musikalischer Botschafter im Ausland zu einer der Symbolfiguren für die wiedererstehende Kulturnation Deutschland geworden ist und der im eigenen Land ¸¸für die Bildung der ästhetischen wie der moralischen Empfindungen, der sozialen wie der symbolischen Ausdrucksformen keine geringere Rolle gespielt hat als Heinrich Böll oder Günter Grass'', wie Jürgen Kesting geschrieben hat.
Wer Fischer-Dieskau je auf einer Bühne erlebt hat, konnte sich schwerlich der Faszination dieser Persönlichkeit entziehen. Mochten andere über die größere, kräftigere, schönere Stimme verfügen, keiner aber konnte durch einfühlsame Gestaltung die feinsten Empfindungen so zu Klang werden lassen wie er. Seine schlank geführte, weich timbrierte, modulationsfähige Stimme war dafür das beste Instrument; seine Gestaltungskunst ging weit über das hinaus, was Noten und Texte vorgaben. Trotzdem hat man ihm vorgehalten, seine Wiedergaben seien zu sehr vom Intellekt geprägt und zu wenig von der Emotion bestimmt - ¸¸Sprechgesang'' eben. Dabei wurde überhört, dass Fischer-Dieskau gerade durch seine intellektuelle Durchdringung der Texte und Noten, durch seine Wortverständlichkeit, erst die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, jene Ausdrucksnuancen aufzuspüren, die der Musik oft einen neuen, tieferen Sinn gegeben haben. Als Interpret hat Fischer-Dieskau auch dadurch Maßstäbe gesetzt, dass er die Einheit von Musik und Wort, Inhalt und Klang wiederhergestellt hat. Professionalität und Selbstdisziplin zeichnen seine Auftritte aus. Jede Geste dient der Spannung, der Imagination, bis sich über ¸¸die bloß perfekte musikalische Bewältigung hinaus zugleich und immer wieder der Eindruck des Endgültigen einstellt'' (Joachim Fest).
Am 28. Mai 1925 in Berlin geboren, erhielt Dietrich Fischer-Dieskau seine Ausbildung bei Georg A. Walther, später bei Hermann Weißenborn. Nach Krieg und Gefangenschaft startete er 1948 in Berlin als Marquis Posa in Verdis ¸¸Don Carlo'' seine einzigartige Karriere. Dass Fischer-Dieskau auch erfolgreich als Dirigent arbeitet, dass er malt, Bücher geschrieben hat und als Lehrer seine Erfahrungen an die nachfolgenden Generationen weitergibt, rundet das Bild dieser Künstlerpersönlichkeit ab. - Morgen, Sonntag, feiert Fischer-Dieskau in Berlin seinen 75. Geburtstag.
Der Oratorienspezialist Dietrich Fischer-Dieskau wird 75 Jahre alt
Der «Karajan des Liedgesangs» und «beste Liedersänger der Welt», für den viele Dietrich Fischer-Dieskau halten, wird morgen Sonntag 75 Jahre alt. Sein Name ist untrennbar mit Schuberts «Winterreise» und seiner einzigartigen Oratorien-stimme verbunden.
VON WILFRIED MOMMERT
Dietrich Fischer-Dieskau, der dirigierende, malende und Bücher
schreibende lyrische Bariton, der ursprünglich von einer
Heldentenor-Karriere träumte und dann auch als Opern- und
Oratoriensänger in seinem Fach mit seiner «betörend
schönen Stimme voller Farbenpracht» weltweit Furore
machte, ist schlechthin eine «Jahrhundertstimme» und
damit eine «lebende Legende».
Anfang 1993 hatte der Berliner Kammersänger zwar zur Verblüffung
der Musikwelt seine Konzertlaufbahn nach mehr als 45 Jahren beendet,
doch trat er weiterhin als Dirigent auf. Hauptsächlich widmet
er sich mit Herzblut dem sängerischen Nachwuchs vor allem
an der Berliner Hochschule der Künste.
Schuberts «Winterreise»
Sein Name aber ist untrennbar mit Franz Schuberts Liederzyklus
«Winterreise» verbunden. Aber auch die anderen Liedklassiker
wie «Die schöne Müllerin» sowie Mahlers
«Kindertotenlieder» und die «Lieder eines fahrenden
Gesellen» erlangten bei Fischer-Dieskau ein bisher kaum
wieder erreichtes Interpretationsniveau.
Seine sängerische und musikschriftstellerische Erschliessung
des deutschen romantischen Liedes werde als singuläre Tat
eines universalen Geistes Gültigkeit behalten, meinte die
«Neue Zürcher Zeitung» einmal über die «Pioniertaten»
Fischer-Dieskaus, der Jahrzehnte der Deutschen Oper Berlin verbunden
blieb, aber auch in Bayreuth schon seit 1954 ein ständiger
Gast war. Der geborene Berliner, der sich vor allem Disziplin
als Grundhaltung auf seine Fahnen geschrieben hat, sieht sich
zu seinem 75. Geburtstag mit einer «eigentlich grauen erregenden
Werktotalität» konfrontiert, wie der mit der Sängerin
Julia Varady verheiratete Sänger in seinem jetzt erschienenen
Erinnerungsband «Zeit eines Lebens. Auf Fährtensuche»
(DVA) schreibt.
In dem Buch gibt er im Übrigen auch eine verblüffende
Begründung für seine Berufswahl: «Wenn meine Mutter
sich Klavier spielend im Esszimmer, in dem wegen Platzmangels
auch der Blüthner-Flügel stand, an Mozart, Chopin oder
Brahms versuchte, hielt ich das kaum aus, schon gar nicht, wenn
sich zugleich ihre etwas piepsige Stimme hören liess. Das
musste doch besser zu machen sein!»
Fischer-Dieskau wollte es wissen und bewies es mit einer beispiellosen
Sängerlaufbahn seit Beginn der Fünfzigerjahre (seine
allererste «Winterreise»-Darbietung fand schon im
Kriegsjahr 1943 bei einer Schüleraufführung im Rathaus
von Berlin-Zehelendorf statt).
Mehr als 3000 Lieder
Durch ihn ist die mittlere männliche Stimmlage zwischen tenoraler
Strahlkraft und des «Basses Grundgewalt» als vielfach
schattierter Baritonklang zum Synonym für Gesang im 20. Jahrhundert
geworden. Seine Stimme wechselt mühelos von Lyrik zu Dramatik,
von Ernst zu Heiterkeit. Sein Repertoire umfasst mehr als 3000
Lieder.
Viele der über 400 Schallplattenaufnahmen erhielten internationale
Auszeichnungen. Zahlreiche Komponisten wie Benjamin Britten, Luigi
Dalla- piccola, Gottfried von Einem, Hans Werner Henze und Aribert
Reimann schrieben für ihn Opernrollen, Oratorienpartien und
Lieder. Zum 75. Geburtstag erschien bei EMI ein umfangreiches
CD-Porträt und eine umfassende Dokumentation mit bedeutenden
Liedaufnahmen Fischer-Dieskaus.
Auch ein Schriftsteller
Der Musikschriftsteller Fischer-Dieskau veröffentlichte bisher
unter anderem den philosophischen Essay über «Wagner
und Nietzsche», die Monografie «Robert Schumann»
sowie die Bände «Schubert und seine Lieder»,
«Wenn Musik der Liebe Nahrung ist» und «Weil
nicht alle Blütenträume reiften». Eine Weltpremiere
feiert der Maler Fischer-Dieskau zu seinem 75. Geburtstag mit
der ersten Galerie-Ausstellung von Ölbildern und Aquarellen,
die an Pfingsten in Potsdam in der Galerie Dietz eröffnet
wird.
Als Liedsänger hat er ein halbes Jahrhundert geprägt,
bevor er 1993 den Konzertsälen Ade sagte, als Lehrer, als
interpretatorische Autorität schlechthin ist Dietrich Fischer-Dieskau
auch jetzt, mit 75 Jahren, eine hoch geachtete Instanz. Niemand
hat so viele Liedplatten eingespielt wie er, niemand auch hat
in so viele Nischen des Repertoires hineingeleuchtet wie dieser
Künstler, dem, neben allem Musikalischen, auch immer eine
Neugier zu Eigen war, wie sie nur wenige zeigen. Dietrich Fischer-Dieskau
hat den Liedgesang herausgeführt aus der Plüschigkeit
des biedermeierlichen Salons, in dem er sich bis zur Mitte des
20. Jahrhunderts immer noch befand, und gezeigt, dass Schubert,
Schumann und Brahms - zentrale Komponisten des immensen Repertoires
von Fischer-Dieskau - gerade im Lied bis in die abgründigsten
Tiefen lyrischen Erlebens hinabsteigen. Dass Fischer-Dieskau hierbei
bisweilen auch an die Grenzen manieristischer Sing-Darstellung
ging und vor allem in den letzten Jahren seiner beispielhaften
Karriere einen radikalen Personalstil entwickelte, machte seine
Interpretationen zeitweise widersprüchlich. Dass Fischer-Dieskau,
der bis heute seinen Lebensmittelpunkt in der Geburtsstadt Berlin
hat, auch auf der Opernbühne zu Hause war, dass er auch sporadisch
als Dirigent und kluger Buchautor in Erscheinung trat, rundet
das Bild dieses Jahrhundertinterpreten ab.
Der lyrische Bariton Dietrich Fischer-Dieskau wird 75 Jahre alt
Dietrich Fischer-Dieskau
Berlin (dpa) Der "Karajan des Liedgesangs" und "beste Liedersänger der Welt", für den viele Dietrich Fischer-Dieskau halten, wird am Sonntag 75 Jahre alt. Der dirigierende, malende und Bücher schreibende lyrische Bariton, der ursprünglich von einer Heldentenor-Karriere träumte und dann auch als Opern- und Oratoriensänger in seinem Fach mit seiner "betörend schönen Stimme voller Farbenpracht" weltweit Furore machte, ist schlechthin eine "Jahrhundertstimme" und damit eine "lebende Legende".
Anfang 1993 hatte der Berliner Kammersänger zwar zur Verblüffung der Musikwelt seine Konzertlaufbahn nach mehr als 45 Jahren beendet, doch trat er weiterhin als Dirigent auf. Vor allem widmet er sich mit Herzblut dem sängerischen Nachwuchs vor allem an der Berliner Hochschule der Künste.
Sein Name aber ist untrennbar mit Franz Schuberts Liederzyklus "Winterreise" verbunden. Aber auch die anderen Liedklassiker wie "Die schöne Müllerin" sowie Mahlers "Kindertotenlieder" und die "Lieder eines fahrenden Gesellen" erlangten bei Fischer-Dieskau ein bisher kaum wieder erreichtes Interpretationsniveau.
Seine sängerische und musikschriftstellerische Erschließung des deutschen romantischen Liedes werde als singuläre Tat eines universalen Geistes Gültigkeit behalten, meinte die Neue Zürcher Zeitung einmal über die "Pioniertaten" Fischer-Dieskaus, der Jahrzehnte der Städtischen Oper bzw. der späteren Deutschen Oper Berlin verbunden blieb, aber auch in Bayreuth schon seit 1954 ein ständiger Gast war.
Der geborene Berliner, der sich vor allem Disziplin als Grundhaltung auf seine Fahnen geschrieben hat, sieht sich zu seinem 75. Geburtstag mit einer "eigentlich grauen erregenden Werktotalität" konfrontiert, wie der mit der Sängerin Julia Varady verheiratete Sänger in seinem jetzt erschienenen Erinnerungsband "Zeit eines Lebens. Auf Fährtensuche" (DVA) schreibt.
Durch ihn ist die mittlere männliche Stimmlage zwischen tenoraler Strahlkraft und des "Basses Grundgewalt" als vielfach schattierter Baritonklang zum Synonym für Gesang im 20. Jahrhundert geworden. Seine Stimme wechselt mühelos von Lyrik zu Dramatik, von Ernst zu Heiterkeit. Sein Repertoire umfasst mehr als 3000 Lieder.
Viele der über 400 Schallplattenaufnahmen erhielten internationale Auszeichnungen. Zum 75. Geburtstag erschien bei EMI ein umfangreiches CD-Porträt und eine umfassende Dokumentation mit bedeutenden Liedaufnahmen Fischer-Dieskaus.
Mit Verblüffung reagiert man daher, wenn man hört, dass Fischer-Dieskau unter Gesangsexperten keinen unumstrittenen Gipfelpunkt in der Geschichte des Singens markiert. Jürgen Kesting hat Fischer-Dieskau in seinem Sängerlexikon unter der Überschrift "Der Monolith" porträtiert und damit vor allem seine problematische Sonderstellung zum Singen an sich bezeichnet. Demnach kehrt Fischer-Dieskau das Verhältnis von Klang und Sprache direkt um: Er führt "der Sprache Klang zu - während es gelten würde, die Sprache in den Klang zu gießen". Dieser deklamatorische Ansatz spricht tendenziell aus allen seinen vielhundert Aufnahmen, in den letzten, den Aufnahmen einiger zentraler Liederzyklen mit Alfred Brendel am Klavier zum Beispiel, tritt er fast schon grimassierend hervor. Hier trägt die Stimme die Phrase nicht mehr, beinah scheint sogar der Übergang von einem Ton zum nächsten im Sinne eines melodischen Zusammenhangs gefährdet. Kompensatorisch versucht Fischer-Dieskau die sprachliche Dimension zu intensivieren und landet grausam im Kitsch der Überdeutlichkeit: So kann er sich beispielsweise ein banales Schmachten bei dem Wort "Schmerz" in Schumanns "Waldesgespräch" nicht verkneifen. Im Liederabend konnte Fischer-Dieskau kraft der Ausstrahlung seiner Persönlichkeit noch bis zuletzt große Wirkungen erzielen, die Ausstrahlung der Stimme jedoch war fort, schien geradezu von der Text-Präponderanz seiner gestalterischen Intentionen erdrückt worden zu sein. Das besagt jedoch, dass die Wirkung von Fischer-Dieskaus Gesang als "wissender" Darstellung weniger mit der Intelligenz seiner Textgestaltung zusammenhängt - denn die könnte auch durch die Beschädigungen der Stimme hindurch wirken -, sondern mit dem Klang der Stimme eines intelligenten Menschen. Nun ist der Vorschein der Intelligenz beim Singen vom Sänger selbst erzeugt - Fischer-Dieskau singt so, dass jeder bemerkt: Er denkt sich etwas dabei.
Der andere Aspekt "hörbarer Intelligenz" betrifft den spezifischen Klang seiner Baritonstimme: Er kommt zu sich nicht im Grandiosen, niemals dort, wo die reklamehaften Wirkungen des Materials die Oberhand über die geistige Kraft der Musik gewinnen. In diesem Bereich, wo vor allem die körperlichen Potenziale des Sängers beklatscht werden, wirkte Fischer-Dieskaus Stimme überanstrengt. Die bevorzugten mittleren Lautstärken und gedeckten Farben mögen der stimmlichen Veranlagung geschuldet sein, sie waren auch ein Garant der Wahrhaftigkeit seines Singens.
Ohne ihn wäre das Lied nicht, was es ist. Durch Fischer-Dieskaus Kunst hat es sich als geistiger Kosmos erschlossen. Bislang unveröffentlichte Aufnahmen sind jetzt erschienen.
Christine Zimmermann
Die Stimme strömt aus einer Flut von Bildern hervor. So
trifft sie die Imagination des Hörenden. Da denkt einer in
Tönen und bringt die Fantasie des Hörenden zum Klingen.
«Nimm sie hin denn diese Lieder...» endet Beethovens
Zyklus «An die ferne Geliebte» op. 98 - mit ruhiger
Selbstverständlichkeit gesungen, fliessend.
«Ihre Stimmgestaltung blieb nicht wie üblich ausserhalb
des Zuhörers, sondern führte in unerhörter Weise
tief in mein Gefühl. Welch ein Glück für Sie, ein
Medium solcher Erlebnisse zu sein!» - schrieb der Analytiker
Harald Schulz-Hencke einst an Dietrich Fischer-Dieskau. Worte,
die sich beim Hören dieser Aufnahme aus dem Jahr 1966 mühelos
nachvollziehen lassen. Die Aufnahme findet sich in der Jubiläumsedition
neben vielen anderen zwischen 1950 und 1980. Die Edition umfasst
zum grössten Teil bisher auf CD nicht veröffentlichte
Interpretationen von Liedern von Beethoven, Schubert, Schumann,
Brahms, Wolf, Liszt und anderen, auch geistliche Arien und Aufnahmen
mit Arien aus Opern Verdis und Wagners. Wie wahr Klaus Geitels
Bemerkung «... in seinem Singreich ging buchstäblich
die Sonne nicht unter».
Zu viel
Freilich zeigt sie - dies sei am Rande bemerkt - noch etwas anderes: Dass nämlich mit Beginn der 70er-Jahre dieses unvergleichliche Strömen der Stimme wie der Imagination anfällig wird für Störungen. Ein Zuviel an Interpretation zwingt den Hörenden auf Wege, die er, losgelassen, viel leichter würde gefunden haben. Die Aufnahme der «Winterreise» mit Daniel Barenboim krankt an diesem Zuviel. Der Mitschnitt eines Hugo-Wolf-Abends mit Svjatoslav Richter aus dem Jahr 1975 lässt zwar zuweilen ähnlich Maniriertes hören, ist aber ein packendes Beispiel künstlerischer Kommunikation. Richter steht an tiefem Verständnis für Wolfs Liedkunst Fischer-Dieskau in Nichts nach. Und seine Begleitung fügt dieser Kunst noch etwas Unerhörtes hinzu: die sprachlose Stimme.
Lösen in Gesang
Der Eindruck des Unerhörten herrscht vor in dieser Edition.
Schuberts Liederzyklen in Aufnahmen mit Jörg Demus oder Gerald
Moore, Schumanns «Dichterliebe» und neben anderen
Zyklen die unvergleichlichen Kerner- Lieder op. 35. Dazu gehören
auch Richard Strauss' böser «Krämerspiegel»
und die Lieder von Othmar Schoeck. Für den ausserhalb der
Schweiz selten zu hörenden Komponisten hat Fischer-Dieskau
sich wiederholt eingesetzt. Das späte 20. Jahrhundert bleibt
ausgespart - mag sein, dass hiervon bereits alles auf CD erschien.
Die Lieder von Hans Pfitzner und Max Reger aber werden in der
Spiegelung durch diesen musikalischen Geist zur Entdeckung. Hier
bewahrheitet sich Schulz-Henckes Wort vom Medium. Wer «Meine
eingelegten Ruder» nach einem Gedicht von Conrad Ferdinand
Meyer hört, dem löst sich jedes Wort im Gesang zu vollkommenem,
unmittelbarem Verständnis und «... niederrinnt ein
schmerzenloses Heute...».
Edition: 21 CDs, DGG 463 500-2. Soeben ist auch Aribert Reimanns
Oper «Lear» mit Fischer-Dieskau in der Hauptrolle
bei DGG erschienen.
Preußisch und auch polyglott: Der Sänger Dietrich-Fischer Dieskau feiert am Sonntag seinen 75. Geburtstag
Von Hans-Klaus Jungheinrich
Gerüchten zufolge hat Dietrich Fischer-Dieskau das deutsche Kunstlied erfunden. Tatsächlich hat er es wiederentdeckt und nach dem letzten Weltkrieg weltweit fast populär gemacht.
Es gibt in der Musik Gattungen mit höchst unterschiedlichem Nimbus. Oper und Symphonie rangieren im öffentlichen Ansehen weit oben, das Melodram ist nahezu verschollen. Militärmärsche genießen zwar hohe militärische, aber geringe künstlerische Reputation. Kammermusik und Lieder scheinen einer besonderen Kennerschaft vorbehalten; im allgemeineren kulturellen Diskurs kommen sie kaum vor.
Immerhin gelang es keinem vor (und nach) Fischer-Dieskau, die Rezeptionsbasis für das Kunstlied ähnlich zu verbreitern. Rechtzeitig zum Aufschwung der technischen Reproduktionsmöglichkeiten von Musik gab es mit ihm eine Persönlichkeit, die als der ideale Lied-Interpret überhaupt anzusprechen ist. Dreierlei ließe sich vielleicht gegen DFD einwenden.
Erstens: Er sei ein manierierter Sänger gewesen, der es nie vermocht hätte, Linien "egal" und natürlich auszusingen, sondern immer gestalten wollte und dabei eben ohne lauter Fingerzeige und Ausrufzeichen ("Drücker") nicht ausgekommen sei.
Solche Urteile lassen sich zwar nicht simpel widerlegen, aber es fragt sich, ob sie die geringste Bedeutung haben. Gérard Souzay zum Beispiel, ein früher DFD-Konkurrent als Liedbariton, ist sicherlich ein makelloser Kantilenensänger, aber doch von beschränktem interpretatorischen Zugriff. DFD verabsolutierte die Linie nicht, sondern balancierte Wort und Ton aus - das bedeutet, dass mal das eine, mal der andere Vorrang hatte. DFDs Stil realisierte zudem schon früh vieles Rhetorische, was die authentische Aufführungspraxis der letzten Jahrzehnte systematisierte und theoretisch unterfütterte.
Zweitens: Kann der Vorwurf treffen, DFD habe sich ganz allein und quasi usurpatorisch zum Lied-Monopolisten aufgeworfen und alle Nebensacher an die Wand gedrückt.
Nun, selbst wenn es so wäre (und es gab in dieser Generation in Deutschland immerhin den tüchtigen, unverwechselbaren Hermann Prey): So geht es nun mal in einem Kulturbetrieb zu, der Stars generiert, und in so einer kleinen Szene wie der des Liedes kann vielleicht nur einer der ganz große Matador sein. DFD hatte von allen bei weitem die größte Kapazität. Und er wirkte in einem weithin unbekannten Gebiet (wer kennt schon mehr als ein paar Dutzend Klavierlieder? DFD sang über tausend) als ein verlässlicher Führer. Er hatte genau das Fluidum aus Autorität und Feinsinn, das die Identifikation mit ihm als romantisch-lyrischem Ich leicht machte. Dritter Einwand: Natürlich kann DFD nur die "Hälfte des Lebens" repräsentieren. Sein Universalismus ist quasi biologisch beschnitten, denn die Sphäre des Frauenliedes war ihm versperrt. Frauen sind doch das "übergreifende" Geschlecht: Auch Müllerlieder, Winterreise und andere Männerstücke scheinen ihnen als jünglingshafte Imaginationen immerhin zugänglich.
Wohl wahr. Aber doch mitnichten eine Rüge für DFD. Und wo wäre die Sängerin gewesen, die ihm an Vielseitigkeit, Mühelosigkeit der Aneignung und Durchdringung hätte an die Seite gestellt werden können? Elisabeth Schwarzkopf etwa, der perfekte Papagei eines genialen Korrepetitors (Walter Legge)? DFDs Format fordert eher zum Vergleich mit einer singulären Opernkünstlerin heraus: Maria Callas.
DFD war auch in der Oper eine überragende Erscheinung, so als Graf im Figaro, als Wozzeck, als Busonis Doktor Faust, als Mathis, sogar als Verdis Falstaff. Henze hatte den Gregor Mittenhofer seiner Elegy for Joung Lovers, Reimann seinen Lear ihm auf den Leib geschrieben.
Nur einen vierten Tadel muss DFD auf sich sitzen lassen: dass er (1993) zu früh und zu abrupt seine Sängerlaufbahn beendete. So empfanden es seine Bewunderer. Aber er selbst musste es ja am besten wissen. Als Maler, als Schriftsteller, als Dirigent ist er weiterhin aktiv. Der Sohn eines Berliner Altphilologen (einer der Vorfahren stammte aus dem Geschlecht der von Dieskaus, das in der Bach'schen Bauernkantate namhaft gemacht wird) verkörpert die besten Traditionen des deutschen Bildungsbürgertums.
Pünktlich zum 75. Geburtstag am morgigen Sonntag veröffentlicht die Deutsche Grammophon jetzt eine splendide Anthologie mit über 300 Liedern auf 21 CDs (vieles davon figuriert erstmals auf CD), eine editorische Großtat und für die Freunde DFDs und des Liedgesangs eine schier unerschöpfliche Fundgrube. Die meisten Aufnahmen stammen aus den 60-er und 70-er Jahren und zeigen den Künstler auf der Höhe seiner Interpretationskunst.
Enthalten sind nicht nur die romantischen Zentren des Klavierlieds, also Schubert, Schumann, Brahms, Mahler, Strauss und Wolf (für dessen pointierte Sprachsensibilität DFD ein unvergleichliches Faible hat), sondern auch etwas im Schatten stehende Meister wie Liszt und Pfitzner, Reger und Othmar Schoeck. Auch die Klassik und Vorklassik von Händel bis Beethoven fehlt nicht, und eine CD ist gänzlich Opernausschnitten vorbehalten. Dass DFD, ein typisch deutscher, ja preußischer Musiker, auch eine beträchtlich polyglotte Begabung hat, zeigen die Debussy-. Ravel- und Ives-Einspielungen. Leider sind zu wenig DFDs Aktivitäten für das Lied des 20.Jahrhunderts (Schönbergschule, Henze, Reimann) dokumentiert. Eine CD mit reizvollen Abseitigkeiten (Reznicek, Busoni, Kempff, Mainardi, Adolf Busch u.a.) ist dafür nur ein unzureichender Ersatz.
Der "Karajan des Liedgesangs" und "beste Liedersänger
der Welt", für den viele Dietrich Fischer-Dieskau halten,
wird am kommenden Sonntag 75 Jahre alt. Der dirigierende, malende
und Bücher schreibende lyrische Bariton, der ursprünglich
von einer Heldentenor-Karriere träumte und dann auch als
Opern- und Oratoriensänger in seinem Fach mit seiner "betörend
schönen Stimme voller Farbenpracht" weltweit Furore
machte, ist schlechthin eine "Jahrhundertstimme" und
somit eine "lebende Legende".
Anfang 1993 hatte der Berliner Kammersänger zwar zur Verblüffung
der Musikwelt seine Konzertlaufbahn nach mehr als 45 Jahren beendet,
doch trat er weiterhin als Dirigent auf. Vor allem widmet er sich
mit Herzblut dem sängerischen Nachwuchs.
Sein Name aber ist untrennbar mit Franz Schuberts Liederzyklus
"Winterreise" verbunden. Aber auch die anderen Liedklassiker
wie "Die schöne Müllerin" sowie Mahlers "Kindertotenlieder"
und die "Lieder eines fahrenden Gesellen" erlangten
bei Fischer-Dieskau ein bisher kaum wieder erreichtes Interpretationsniveau.
"Anfang und Ende meiner sängerischen Bemühungen
war Schubert", wird der Sänger später einmal sagen.
Der geborene Berliner, der sich vor allem Disziplin als Grundhaltung
auf seine Fahnen geschrieben hat, sieht sich zu seinem 75. Geburtstag
mit einer "eigentlich grauen erregenden Werktotalität"
konfrontiert, wie der mit der Sängerin Julia Varady verheiratete
Sänger in seinem jetzt erschienenen Erinnerungsband "Zeit
eines Lebens. Auf Fährtensuche" schreibt.
Fischer-Dieskaus beispiellose Sängerlaufbahn begann Anfang
der 50er Jahre. Durch ihn ist die mittlere männliche Stimmlage
zwischen tenoraler Strahlkraft und des "Basses Grundgewalt"
als vielfach schattierter Baritonklang zum Synonym für Gesang
im 20. Jahrhundert geworden. Seine Stimme wechselt mühelos
von Lyrik zu Dramatik, von Ernst zu Heiterkeit. Sein Repertoire
umfasst mehr als 3.000 Lieder.
Viele der über 400 Schallplattenaufnahmen erhielten internationale
Auszeichnungen. Zahlreiche Komponisten wie u. a. Benjamin Britten,
Luigi Dallapiccola, Gottfried von Einem und Hans Werner Henze
schrieben für ihn Opernrollen, Oratorien-Partien und Lieder.
Erschienen am: 26.05.2000