Gehen Sie noch in die Oper?
Ein Interview mit dem Sänger und Dirigenten Dietrich Fischer-Dieskau
Dietrich Fischer-Dieskau gehört zu den bedeutendsten Sängern
des 20. Jahrhunderts. 1925 in Berlin geboren, begann er 1947
mit der Aufführung von Schuberts "Winterreise"
eine Ausnahmekarriere. Bis zu seinem Bühnenabschied 1993
war er sowohl als Lied- wie auch als Opernsänger weltweit
präsent. Seit Ende der siebziger Jahre arbeitet Fischer-Dieskau
als Dirigent. Er ist als Rezitator gefragt, malt und hat mehrere
musikgeschichtliche Bücher veröffentlicht.
Herr Fischer-Dieskau, Sie sind nie gerne bei Freiluftkonzerten
aufgetreten. Andererseits erfreuen sich gerade open-air-Programme
größter Beliebtheit. Das Waldbühnenkonzert der
Philharmoniker ist stets in kürzester Zeit ausverkauft.
Das ist ja eher ein Volksfest als ein Konzert, und dementsprechend
ist dann auch die Programmauswahl. Aber es ist mir immer noch
lieber, man spielt vor so einem riesigen Publikum leichte Klassik
als Crossover.
Die Plattenfirmen allerdings setzen immer mehr auf Crossover.
Alle Firmen stehen vor der Pleite und versuchen, sich irgendwie
mit den primitivsten Mitteln zu helfen. Kunst ist etwas anderes.
In den Zeiten, als Sie Ihre berühmten Aufnahmen gemacht
haben, hätte man sich diese Misere nie träumen lassen.
Es kommt mir vor wie ein anderes Zeitalter. Da kamen Plattenfirmen
auf einen zu und wollten höchst anspruchsvolle Projekte
realisieren: Sämtliche Brahms-Lieder oder sämtliche
Lieder von Hugo Wolf oder auch den ganzen Schubert. Das waren
ja nicht meine Ideen. Im ersten Moment habe ich gesagt: Um Gottes
Willen, was soll man denn mit sämtlichen Männer-Liedern
von Schubert auf Schallplatte? Wer soll sich das anhören?
Wird das nicht wie mit der Gesamtausgabe von Herders Werken,
die zwar im Bücherschrank steht und doch nie angerührt
wird? Aber dann hat es sich für mich künstlerisch doch
sehr gelohnt...
...und für Ihre Plattenfirma auch!
Letzten Endes ja. Die Schubert-Edition wurde schon zwei Mal
wieder aufgelegt.
Dennoch kämpfen die Firmen ums Überleben.
Der Markt ist übersättigt, inzwischen liegen selbst
die entlegensten Titel in mehreren Aufnahmen vor. Und dann kommt
noch eines hinzu: Wer heute unvorbelastet in einen Plattenladen
geht, sucht sich das Billigste aus, nicht das Qualitätvollste.
Ich fürchte, dass die Allgemeinbildung, was künstlerische
Dinge betrifft, sehr stark im Schrumpfen begriffen ist.
Können sich die Leute nicht mehr so gut konzentrieren
wie früher?
Nicht nur die Zuhörer, auch die Künstler. Es ist
ja so, dass man sich heute ein relativ sicheres Handwerk erarbeitet
und dann drüberhin musiziert.
Liegt das daran, dass man schneller produzieren muss als
früher?
Nein, wenig Zeit hatte man früher auch. Ich hatte nie
mehr als zwei Proben mit einem Pianisten für einen Liederabend,
bei Auftritten mit Orchester oft nur eine Probe am Tag des Konzerts.
Es wurde wenig probiert, auch in der Oper kam man mit vier Wochen
Probezeit aus.
Weil die Operndirigenten früher häufiger bei
den Regieproben mit den Sängern anwesend waren?
Die meisten waren genauso wenig präsent wie heute. George
Szell war eine Ausnahme. Oder Karl Böhm. Wenn "Così"
anstand, kam Böhm zu den ersten Proben und sagte: Das geht
unmöglich so, der muss da stehen und die dort. Der Regisseur
seufzte, musste sich aber fügen. Das Problem ist, dass die
Dirigenten heute meistens stumm daneben stehen und sich alles
gefallen lassen.
Haben sie Angst vor den übermächtigen Regisseuren?
Die Regisseure haben heute ein sehr viel diktatorischeres
Auftreten als vor ein paar Jahrzehnten. Es wird nicht abgewichen
von bestimmten Ideen. Das Scheinwerferlicht wird auf einzelne
Details gerichtet, die dann überbelichtet sind, während
andere Dinge wegfallen - so dass das Werk selber selten zum Vorschein
kommt. Früher hatten Regisseure auch Konzepte, aber sie
ließen sich zugleich von den Sängern inspirieren,
waren bereit, Anregungen aufzugreifen. Das ging bis zu Ponnelle
und Günther Rennert.
Sie haben auch viel dirigiert. Wie haben sich die Orchester
in den letzten Jahrzehnten entwickelt?
Es liegt ja alles schon so wahnsinnig weit zurück, was
gespielt wird, ist so hunderttausendmal gehört worden -
kein Wunder, wenn das Interesse nicht allzu groß ist.
Gehen Sie noch in die Oper?
Ungerne. Allein stimmlich werde ich viel zu oft enttäuscht.
Kein Mensch lernt mehr, Legato zu singen!
Zeitgenössisches war immer stark in Ihrem Repertoire
vertreten...
ich bin halt sehr neugierig! Es ist wunderbar, Dinge auszuprobieren,
von denen man noch nicht weiß, ob sie ankommen, ob die
Leute etwas davon verstehen und ob man selber damit etwas ausrichten
kann.
1993 haben Sie aufgehört zu singen. Welcher Beruf,
welche Berufung dominiert zurzeit?
Eigentlich sollte gar nicht mehr so viel im Vordergrund stehen.
Ich bin inzwischen 76 Jahre alt, aber ich schreibe sehr gerne,
ich male, es zieht mich natürlich auch noch aufs Podium.
Das Spannungsverhältnis zwischen Publikum und Ausführendem
ist für mich immer noch etwas sehr Reizvolles. So lange
ich das noch machen darf, bin ich froh und dankbar.
Wie ist es mit dem Dirigieren?
Das habe ich immer gerne gemacht. Aber es gibt so viele junge
Leute, die ihr Handwerk beherrschen, da braucht es einen alten
Mann wie mich nicht mehr. Das mache ich nur noch, wenn man mich
wirklich haben will. Außerdem habe ich einen Sohn, der
als Dirigent begabt ist. Der soll jetzt mal ran!
Welche Projekte stehen für Berlin an?
Mit dem Berliner Sinfonie-Orchester mache ich Ende 2002 ein
Programm als Dirigent, es sind ein paar Lesungen im Schauspielhaus
geplant. Außerdem gebe ich eine öffentliche Meisterklasse
in der Hochschule der Künste Anfang November 2001.
Wird Ihre Frau, Julia Varady, in Berlin zu hören sein?
Derzeit ist nichts geplant. Sie war Ende Mai mit Christian
Thielemann und dem Orchester der Deutschen Oper in Paris, sie
hat Verdis Frühwerk "Attila" in Wien gesungen,
wird einen "Nabucco" machen, ebenfalls in Wien. In
szenischen Aufführungen wirkt sie ja nicht mehr mit, aber
konzertante Opern würde sie auch hier machen, wenn Angebote
kommen.
Viele Menschen gehen in Berlin lieber in die Staatsoper
als in die Deutsche Oper, weil die angeblich hässlich sei.
Das Interieur spielt ja keine Rolle, wenn die Qualität
stimmt - wie man in der Vergangenheit gesehen hat. Man denke
nur an die Ära Sellner. Prachtvoller Stuck und Kronleuchter
tragen zwar zur festlichen Stimmung bei, aber es muss nicht unbedingt
sein. Die Staatsoper sieht toll aus, ist aber akustisch nicht
unproblematisch. Beispielsweise ist sie für das ganze Wagner-Repertoire
eigentlich zu klein - trotzdem hat man die Stücke immer
da gespielt.
Wie ist Ihr Verhältnis zur Kritik?
Die Funktion der Kritik ist mir nach wie vor nicht deutlich.
Ich weiß nicht, weshalb es Kritiken gibt.
Zum Beispiel, um Leute dazu zu animieren, sich eine Aufführung
anzuhören, in die sie vielleicht sonst nicht gegangen wären!
Wenn Kritik so funktioniert: sehr schön. Aber es gibt
ja auch über gute Vorstellungen immer unendlich viele Meinungen.
Mein Urteil ist nicht dasselbe wie das meines Nachbarn. Andererseits
gäbe es für die Nachwelt wohl ohne die Kritik auch
keinen Maßstab für den Erfolg eines Werks.
Lesen Sie Kritiken?
Ich habe alle gelesen, immer. Meistens schmunzelnd, mal habe
ich mich auch geärgert - aber nie länger als drei Stunden.
Viele Musiker wollen in der Freizeit nur eines: keine Musik
mehr hören.
Nein, ich kann leider gar nicht ohne Kunst auskommen. Das
ist wie eine Sucht, die nicht zu bekämpfen ist. Einen Ausgleich
allerdings braucht man schon. Das Malen zum Beispiel. Ich kann
Theorien nicht leiden, die unbedingt Musik und Malerei vermählen
wollen - das stimmt nicht. Andere Leute wählen andere Entspannungen.
Der Dirigent Rudolf Kempe hatte in seinem Keller eine riesige
Modellbahn-Anlage aufgebaut, die größte, die ich je
gesehen habe. Sie füllte mindestens fünf Räume.
Das war seine Art der Erholung.
Das Gespräch führte Frederik Hanssen.
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