Süddeutsche Zeitung vom 15.12.99

Dietrich Fischer-Dieskau

Ein Kantor, den die Welt verehrt

Karl Richter hat das Leben der Musikfreunde reicher gemacht - München als Synonym für die Pflege Bachs

Als Karl Richter mit 54 Jahren an Herzversagen starb, gab es große Bestürzung allerorten. Denn Ruhm und Wirkung der von ihm geschaffenen neuen Bach-Tradition und seine Schöpfung des einst weltberühmten Bach-Chores, eines Laien-Chores von professionellem Zuschnitt, hatte eine geradezu hymnische Verehrung in allen Weltteilen geerntet, wie sie kein anderer Kantor des 20. Jahrhunderts - außer vielleicht seinen beiden Lehrern Karl Straube und Günther Rasmin - je für sich in Anspruch nehmen konnte. Diese beiden großen Lehrmeister, in deren Obhut Richter, neben der chorischen Erziehung durch Rudolf Mauersberger, aufwuchs, vermittelten ihm die Aufführungspraxis mindestens dreier Generationen. Und nicht alles, was deren Interpretation ausmachte, kann ihm gefallen haben, denn was er dagegen zu setzen hatte, war ebenso bedeutend, wie es schwer in Worte zu fassen ist.

Als ich ihn kennen lernte, machte er auf mich den Eindruck eines einsamen Menschen. Und er war sicherlich noch "auf dem Wege", was seinen großartigen Bach-Stil betraf. Noch war damals wenig von der Spontaneität und dem Elan zu spüren, mit dem er Bachs Werke erfüllen konnte. Unglaublich aber immer wieder die Gedächtnisleistung: Ihm war das gesamte Tastenwerk wie alles, was Bach der menschlichen Stimme anvertraut hat, im Kopf und sofort verfügbar. Oft war er bis zum Konzertbeginn nicht völlig sicher, was auf dem Programmzettel stand. Und im Grunde konnte erst auf dem Weg über seine Interpretationen auf der Orgel oder dem Cembalo wirklich ermessen werden, wie seine Bach- Auffassung sich von Jahr zu Jahr rundete: von äußerster Strenge und Sachlichkeit ausgehend, wuchs er zum Ausdruck jener glutvollen Frömmigkeit, die ihn beseelte.

Wenig kümmerte sich Richter um musikwissenschaftliche Revolutionen, um die jüngere Bach-Forschung. Er ließ sein Bach- Orchester auf modernen Instrumenten spielen und richtete sein ganzes Bemühen daran aus, eine Intensität zu vermitteln, die eine seiner spezifischen Qualitäten ausmachte. Während der Aufführungen enthusiasmierte er Ausführende wie Hörende, und nie konnten die genau Einstudierten sicher sein, ob sie nicht geheimnisvoll in ganz andere Ausdruckssphären und damit andere Tempi und Lautstärken geführt wurden, nicht wissend, wie ihnen geschah. Kein bequemer Künstler war er, folglich auch kein bequemer Mensch. So hat er nicht bloß Anstöße gegeben, sondern auch Anstoß erregt. Wer wie er sein ganzes Leben einsetzt, ohne Rücksicht auf das Herz oder die immer gefährdeten Augen, der kann auch unduldsam bis zur Härte werden, wenn es um das Werk, die Leistung - und nicht zuletzt ums Ansehen ging.

Des Sonntags saß er an der Orgel jener Markuskirche, die er sich zum Ausgangspunkt für die Münchner Tätigkeit erkoren hatte. Denn der Pastorensohn war an der Orgel groß geworden, hatte schon als Halbwüchsiger manchmal auf der Orgelbank genächtigt, um morgens gleich üben zu können. Es muss sich als eine Selbstverständlichkeit ergeben haben, dass man dem Thomas-Organisten Richter in Leipzig in sehr jungen Jahren schon den Posten des Thomas-Kantors anbot. Mit sicherem Gespür für seine Zukunftsmöglichkeiten und die kommende politische Entwicklung zog er den Westen vor und schlug seine Zelte in einer katholisch bestimmten Stadt auf, die eine Tradition in Bachs Sinn erst noch aufbauen musste. Das konnte nicht besser untermauert werden als durch Richters Tätigkeit an der Münchener Musikhochschule, die ihn 1956 zu ihrem jüngsten Professor machte.

In kürzester Zeit wandelte er den Namen Münchens zum Synonym für Bach-Pflege ohne Wenn und Aber. Da stieß er manchmal auf Widerstand, was die Wirkung tätigte, dass er nicht mit ihm Arbeitende ungern an sich heranließ, es sei denn auf dem Grunde einer betonten Musikerkumpanei, mit der es nicht viel Menschliches auf sich hatte. Die Arbeit war ihm alles, und welchen Schwung und welch erobernde Nachschöpferkraft er dafür aufbrachte, das wurde mir erst allmählich deutlich. Denn neben der in den frühen fünfziger Jahren üblichen Trockenheit aller Musikausübung unter den Jungen störte mich am Anfang eine gewisse Brummigkeit, solange es sich um den Austausch von alltäglichem Miteinander drehte. Freilich beileibe nicht in jener Form von Streit, wie er uns in der Presse damals angedichtet wurde. Bei der Erwähnung nur des geringsten musikalischen Details leuchteten seine Augen auf, und sein Interesse war geweckt. Und keiner wird den Ausdruck erfüllter Hingabe vergessen, den die von interpretierte Musik auf sein Gesicht zauberte, auch noch lange nach der Aufführung.

Er hat das Leben aller, die Musik lieben, reicher gemacht. Und er wäre noch zu damals nur geahnten symphonischen Ufern aufgebrochen. Meine letzte Begegnung mit ihm bei einem "Deutschen Requiem" von Brahms in Baden-Baden ließ den grossen Atem und die Ausdruckstiefe spüren, die er als Dirigent verwirklichen konnte. Auf dem Gebiet der Oper (ich durfte Händels" Cesare" und Glucks "Orfeo" mit ihm musizieren) bewährte sich ausser seiner improvisatorischen Spannkraft eben jener Umgang der menschlichen Stimme, den ihm das große, aber durch selbst als beendet erklärte Kantaten-Projekt auf der Schallplatte beschert hatte.

Professor Dietrich Fischer-Dieskau ist Sänger, Dirigent und Autor von Musikbüchern. Er lebt in Berlin und in Berg am Starnberger See.

Dieser Beitrag wurde 2000 in dem Buch "Jahrhundert-Münchner" (A1 Verlag) veröffentlicht. ISBN 3-927743-53-4

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