Berliner Zeitung 10.9.2001

In idealer Gestalt
Zur Festwochen-Eröffnung dirigierte Claudio Abbado Musik von Schönberg

Klaus Georg Koch

Die Berliner Festwochen sind am Samstag mit einem grandiosen Konzert in der Philharmonie eröffnet worden; die Philharmoniker, Claudio Abbado, Dietrich Fischer-Dieskau, Peter Serkin und die Herren des Rundfunkchors führten Musik von Arnold Schönberg auf.
Über Peter Serkin, den Solisten in Schönbergs Klavierkonzert aus dem Jahr 1942, war gleich in der Pause zu hören, sein Spiel sei fabelhaft farbig gewesen. Farbig war es gewiss, insofern Schönberg bei der Komposition auf Farben zielte. Fabelhaft ist die Stelle im Kopfteil des Scherzos, wo im Klavier die Farb- und Aufprallwerte zwischen Doppelgriffen und Einzeltönen bestimmt werden, und das Xylophon die rechte Hand dazu spielt. Ein paar Takte weiter sind Posaunen und Tuba in den Klaviersatz interpoliert. Aber eigentlich machte sich Serkin zum Vertreter der Sachlichkeit in dieser Aufführung. Anlässe zum Romantisieren bietet das Konzert viele, schon der solistisch geführte Einstieg ist gebaut wie ein Klavierstück von Brahms, eine Melodie entfaltet sich, die linke Hand spielt aufgelöste Dreiklänge dazu - die musikalische Form von Traum und Erinnerung, immerfort klingt hier etwas an. Das Anklingen in der linken Hand möchte wohl auch gleich das Metrum korrumpieren, Serkin schreitet aber entschieden voran und bestimmt die Form aus der Ober- und Oberhauptstimme. Das nennt man Vernunft bewahren.

Zu behaupten, das Klavier spiele schwarz-weiß, ist jetzt nicht ganz gerecht. Aber die Farben, in denen das Anklingen sich bald unwiderstehlich Recht verschafft, diese Farben kommen erst aus dem Orchester. Natürlich ist Schönbergs Klavierkonzert unfehlbar präzise kons-truiert, alles läßt sich nachzählen. Die äußerste Präzision, die es den Ausführenden abverlangt, wäre in einer Symphonie etwa von Tschaikowsky überflüssig. Aber Claudio Abbado dirigiert das anders: so leicht. Nach diesem Dirigat gibt es überhaupt keine Schwierigkeiten mehr. Auch den einfachen Dualismus von Haupt- und Nebenstimmen lässt es hinter sich. Vom Gestus der Erinnerung, der dem Konzert eingeschrieben ist, bleibt in dieser Aufführung vor allem das Immaterielle und nicht Herbeigezwungene, und im Spiel von Struktur und sinnlicher Überwältigung, im Durchspielen bald nur formaler, bald nurmehr phantastischer Verhältnisse zwischen Solist und Orchester, glaubte man das Werk in idealer Gestalt vorgeführt zu bekommen.

Das war nun generell der Eindruck dieses auch beim Publikum sehr erfolgreichen Konzerts, und zum landläufigen Verständnis der Musik Schönbergs als einer widerständig konstruierten, durch Konstruktion widerständigen stand er auffallend quer. Schönbergs gigantisches Frühwerk "Pelleas und Melisande" wurde gespielt wie im Rausch, ziemlich laut, prächtig, überwältigend, sein Konstruiertes, die tausendmal verzurrten, verschlungenen, verknoteten Stränge der dunklen Erzählung, wurde eigens nicht hervorgehoben. Kontrolle gab es da im Technischen bestimmt, virtuos bis ins Detail, sonst hätte die Aufführung nicht ungebrochen gewirkt. Vernunft, im Sinne einer ästhetisch herausgestellten Trennung der Stimmen, wurde nicht bewahrt.

Wie das aufgelöste Paradox der "idealen Gestalt" auch irritieren kann, hatte sich zu Beginn in Schönbergs "Überlebendem aus Warschau" aus dem Jahr 1947 gezeigt, einem berühmten Stück dramatischer Musik, für dessen Helden, einem Überlebenden der Vernichtung im Warschauer Ghetto, Schönberg den englischsprachigen Text selbst geschrieben hat. Dietrich Fischer-Dieskau überführte diesen schauerlichen Zeugenbericht am Samstag in eine Form panisch exaltierter Äußerung, in der, vor dem unaufhörlichen Gerassel der Militärtrommeln, Rufen, Schreien, Singen übereinanderfallen. Das reichte, durch die künstlerische Beherrschung, nun wieder weit ins Schöne hinein, und man musste sich schon sehr entschieden klarmachen, wie letztlich dieser Gebrauch des Schönen und der kompositorischen Mittel durch Schönbergs eigenes Leben als emigrierter Jude gerechtfertigt ist. Im "Überlebenden aus Warschau" kann man sehen, wie sehr Schönberg auch eine Wirkung auf das Publikum gewollt hat, und an Wirkung hat es am Samstag wahrlich nicht gefehlt.

In gewisser Weise ist es dann auch ein außergewöhnlich stilles Konzert gewesen. Der "Überlebende" schlägt vor dem Ende ja vom Schönen ins Erhabene über, wenn, auf dem entsetzlichen Höhepunkt der Erzählung, plötzlich der Männerchor in das "Sch’ma Israel", in die tönende Mahnung Gottes umschlägt. Abbado hielt diesen Moment des Sakralen nach der Aufführung fest, der übliche, profanierende Applaus setzte nach einiger Zeit erst ein. Interessanterweise ereignete sich ein gleicher Moment auch nach dem Ende des "Pelleas".
 


Der Tagesspiegel 10.9.2001

51. Berliner Festwochen
Aufbruch aus der Romantik

Zur Eröffnung: Abbado und die Philharmoniker spielen Schönberg


Sybill Mahlke


Am Vorabend der Berliner Feierlichkeiten zur Eröffnung des Jüdischen Museums steht "Ein Überlebender aus Warschau". Steht eine Schweigeminute nach dem Verklingen des hebräisch gesungenen Liedes "Höre Israel", die dem Werk seit der Uraufführung 1948 in New-Mexico zuteil wird, weil sie gleichsam mitkomponiert ist. Die Unmittelbarkeit, mit der Arnold Schönbergs 99-taktiges Werk das Publikum trifft, ist geblieben. Der Bericht eines polnischen Juden über die Massaker im Warschauer Getto, die er als Todbestimmter verletzt überlebt hat, erzählt, wie eine Reihe von Todgeweihten zum Abzählen antreten muss. "In einer Minute will ich wissen, wie viele ich zur Gaskammer abliefere!" Die Stimme des Feldwebels dröhnt auf Deutsch, während das Melodram "A Survivor from Warsaw" - ein politisch-religiöser Text des Esoterikers Schönberg! - sonst in englischer Sprache gehalten ist. "They began again, first slowly: one, two, three, four, became faster and faster ..." Und dann, auf einmal, begannen sie, mit Macht das alte fromme Lied zu singen.

Über das Realismus-Genre hinaus hat die Komposition mit einer Zwölftonreihe zu tun, die aus der Melodie des Liedes kommt. Das alte Gebet, das bei keiner jüdischen Andacht fehlt, der vernachlässigte Glaube, die Bewusstlosigkeit, das Unterbewusstsein: Die Tiefenschichten gehorchen einer motivischen Struktur, obwohl die Musik bei flüchtigem Hören eher gestisch geprägt erscheint. Aus Erregung, Angst und menschlicher Herabwürdigung wird Gesang.

Ein minutenknappes Monumentalwerk, Passion und Utopie: So fangen die 51. Berliner Festwochen an, mit den Berliner Philharmonikern, mit Claudio Abbado und Dietrich Fischer-Dieskau. Dass die Rezitation des Sprechers in jedem Moment der Musik nahe ist, wenn er der Erinnerung nachhorcht und die Schläge der Grausamkeit nachvollzieht, die Rollen also im Wort wechselt, versteht sich aus dem Wesen des Interpreten. Trotzdem hält er sich an Schönbergs Mahnung, im gesprochenen Text nicht zu singen. Dann intonieren die Herren des Runndfunkchores Berlin das "Schema Isroël", und Fischer-Dieskau stimmt ansatzweise ein: Zu erleben ist eine Ambivalenz zwischen Identifikation und Scheu vor der Identifikation.

Der Schönberg-Abend setzt sich mit dem Klavierkonzert fort, das Peter Serkin musiziert, der Sohn des legendären Pianisten und Schönberg-Schülers Rudolf Serkin. Die Virtuosität des Solisten dient der Virtuosität, mit der die Komposition nunmehr - 1942 - das Zwölftonsystem behandelt: Spielfreude ist darin, Poesie und Grazie. Dann schlägt mit "Pelleas und Melisande" die große Stunde Claudio Abbados. Wieder, wie schon bei der "Tristan"-Produktion, modelliert er am Orchesterklang, indem er die Bratschen vorn links (vom Zuschauer aus) spielen lässt mit den Kontrabässen dahinter. Das intensiviert die dunklen Klanggründe einer Programmmusik nach Maeterlinck, die nicht den Text illustrieren will, sondern aus den inneren Situationen kommt: Waldszene, Melisandes erste Begegnung mit Pelleas, Springbrunnen, Liebesszene, Golos Eifersucht, seine Drohung in der Tiefe des Schlossgewölbes, Abschied der Liebenden und Tod. Die Symphonische Dichtung ist sowohl Wagners "Handlung" wahlverwandt als auch ihrer Chromatik und sogar ihrem Instrumentalklang, der von der traurigen Weise des Englischhorns - was für ein Stück für Dominik Wollenweber! - bestimmt wird. Abbado dirigiert den Aufbruch aus der Romantik, als habe er Mahlers "glühend Messer" in der Brust und setzt hinter die grandiose Aufführung tönendes Schweigen.


Berliner Morgenpost 10.9.2001

Seelenweltraum
Abbado eröffnete die Berliner Festwochen mit Schönberg
Von Klaus Geitel

Die Festwochen haben mit einem Donnerschlag der Verehrung ihres diesjährigen Hauptheiligen begonnen. Sie sind dem Werk Arnold Schönbergs gewidmet, und der kam in der Philharmonie gleich dreifach überaus nachdrücklich zu Wort. Vielleicht aber sind diese Festwochen insgeheim und unausgesprochen auch Claudio Abbado gewidmet, dem scheidenden Chef der Philharmoniker, der nun seine letzte Saison am Pult seines Orchesters beginnt.

Er machte mit dem Konzert noch einmal klar, welche künstlerische Potenz Berlin mit ihm verliert. Er riss seine Musiker zu einer Darstellung von Schönbergs «Pelleas und Melisande» hoch, die in ihrer unaufhaltsam dahinrasenden Schönheit, ihrem Leidenschaftszug, ihrer Orchester-Virtuosität geradezu einer Uraufführung gleichkam. Das Stück düste unter seinen Händen schier unhaltsam davon: eine hochexpressive Weltraummusik der Seele. Abbado machte deutlich, wie selbstbewusst, unabhängig und geradezu draufgängerisch Schönbergs sinfonische Dichtung sich neben Debussys geheimnisschwangerer dramatischer Maeterlinck-Vertonung zu behaupten verstand; über welche handwerkliche Meisterschaft Schönberg aber auch schon in seinem Opus 5 verfügte. Richard Strauss, hellhörig und kollegial, hatte Schönberg auf Maeterlincks Liebesmysterium hingewiesen.

Abbados Interpretation machte im Nebenbei aber auch deutlich, welche innere Courage Schönberg besaß, der Unausweichlichkeit seiner Eingebung zu folgen, die ihn in die Fesseln der Dodekaphonie trieb, die eine ganz neue künstlerische Freiheit versprach und nicht müde wurde, dies einem eher zögerlichen Jahrhundert auch nachhaltig zu verkünden. Mit «Pelleas und Melisande» war Schönberg noch vor seinem dreißigsten Lebensjahr auf einen Ausdrucksgipfel gelangt, der in der Folge kaum noch zu übergipfeln schien.

Aller Klangluxus war ausgebreitet, das Fin de siècle mit höchstem musikalischen Luxus zu Ende gefeiert. Entsagung war angesagt. Aus kulinarisch wüster Musik hatte sozusagen Wüstenmusik zu werden: Verkargung, Entsinnlichung, ein geistiges Abenteuer. Schönberg brach auf, es zu bestehen. Er ließ die lieb gewordenen Hörgewohnheiten des Jahrhunderts hinter sich.

Auch davon zeugte Abbados Konzert, das sich als Solisten Peter Serkin verpflichtet hatte, der das Klavierkonzert von 1942 vortrug, knapp vierzig Jahre nach «Pelleas und Melisande» entstanden, ein überaus kunstreich gegliedertes, dabei beinahe schwereloses Stück von weitgehend spielfreudigem Charakter. Serkin tuschte es mit höchster Akribie hin. Begonnen hatte das Konzert mit Schönbergs Klage- und Gedenkstück «Ein Überlebender aus Warschau» aus dem Jahr 1947, dem beklemmenden Bericht von der Schande, die über Deutschland gekommen war. Dietrich Fischer-Dieskau, einst die Engelszunge des deutschen Liedes, sprach Schönbergs bitteren englischen Text, ihn vielleicht sogar zu verkünstelnd, mit hoch pathetischer Vehemenz.


Die Welt 10.9.2001

Gepflegte Erinnerung. Ohne Schrei. Ohne Fanal.

Alles Schönberg: Untergründig hochpolitisch eröffnet Abbado die 51. Berliner Festwochen

Von Manuel Brug

Ein Schrei. Ein Fanal. Klassisch gepflegt. Die Berliner Festwochen, die 51., eröffnen zum 50. Todestag von Arnold Schönberg mit einem zur Gänze ihm gewidmeten Konzert. "Ein Überlebender aus Warschau" von 1947 steht am Beginn. Ein unmögliches Werk. Erinnerungsstele, Musik geworden. Herrenchor, Sprecher und Orchester - für neun Minuten. Ein dramatische Szene, die nur noch viel dramatischerer Wirklichkeit künstlerisch Herr werden will. Fragmenthaft, roh direkt. "Achtung! Stilljestanden!", muss es durch den Saal gellen, wenn der, der sich auf Englisch erinnert, plötzlich Deutsches, vom Feldwebel im Ghetto Gehörtes brüllt.
In der Philharmonie brüllt nichts. Dietrich Fischer-Dieskau, auch ein Monument - Berliner Nachkriegskulturlebens -, nuschelt viel zu opernsängerhaft, staatstragend, festaktgemäß. Auch das blendend präsente Berliner Philharmonische Orchester unter seinem wieder an Gewicht zugelegt habenden Chefdirigenten Claudio Abbado spielt schön, brillant fast, gibt dem Grauen feingeistigen Rahmen. Alles Schrundige, Scharfe ist geglättet und poliert. Nichts tut weh. Wie darauf reagieren? Verlegenes Klatschen macht sich Raum.

Sage noch einer, Musik sei unpolitisch. Schönberg, der protestantisch konvertierte Jude, von den Nazis aus Berlin verjagt (ein zweites Mal, als es im kulturellen Kleinkrieg nicht gelang, vor wenigen Jahren das Schönberg-Archiv zu erwerben; Wien griff zu und schickt jetzt die Jubiläumsausstellung an die Spree...). Schönberg, der sich im amerikanischen Exil, in der Traumfabrik Hollywood, wieder mit der Geschichte seines Volkes beschäftigte, geht der Eröffnung des von Querelen flankierten Jüdischen Museums voraus. Das liegt ein paar Kilometer von jener Wannseevilla entfernt, wo die "Endlösung" geplant worden war. Dieses Ereignis wiederum ist klanglich eingerahmt von der Musik des Juden Gustav Mahler. Da finden sich in den Berliner Konzertprogrammen dieser Woche dessen 1. und 2. Sinfonie (die, auch auf Texte des von den Nazis missbrauchten Nietzsche, gespielt von einem von Kommunisten gegründeten Orchester, dem nun mit Eliahu Inbal als neuem Chefdirgenten ebenfalls ein Jude, vorsteht), die "Lieder eines fahrenden Gesellen" und die "Kindertotenlieder". Daniel Barenboim schließlich dirigiert als Festkonzert mit dem Chicago Symphony Orchestra die 7. Sinfonie.

Bleiben wir bei den Festwochen. Da trifft sich nach wie vor felsenfest altes Berliner Kulturestablishment. Die jungen Entscheider feiern anderswo. Neu sind im traulich gelbbraunen Philharmonie-Rund Philharmoniker-Intendant Ohnesorg, der Kultursenatorin Goehler Honneurs macht. Schräg daneben sitzt, auf altem Platz, der gewesene Festwochenchef Eckhardt, es sind schließlich noch von ihm geplante; eine Reihe davor der neue, bisher nur ein Erbe verwesende Mann, Joachim Sartorius.

Und bleiben wir bei der Musik: Ein ganzes Schönberg-Programm. Interessant, aber didaktisch. Nicht von ungefähr gilt der Theoretiker mehr als an der Kasse der Komponist. Der amerikanische Jude Peter Serkin spielt (aus Noten und mit Umblätterin), das verquer spätromantisch beginnende, hypernervöse und in alle Orchesterparaden fahrende Klavierkonzert von 1942. Zwölfton-Kaskaden, allerdings in Buchhaltermanier vorgelegt, wo über seriellen Zahlenspielen das Material blitzen, mutwillige Spielfreude im Walzertakt um sich greifen müsste. Den wieselig rapide reagierenden Philharmonikern zum Trotz. Furtwänglers Orchester, auch mal braun kontaminiert, jetzt von einem Italiener in seinem letzten Jahr geleitet; einen Engländer als Chef erwartend. So hat auch diese scheinbar abstrakte Musik an einem solchen Tag plötzlich einen denkwürdigen Unterton.

Nach der Pause: weiter Schönberg, "Pelleas und Melisande", die langatmige sinfonische Dichtung von 1903. Sich plusternde Spätromantik. Viele Motive, die zu wenig entwickelt sind, versacken in einem plüschigen Orchestersatz samt vier Harfen, den Abbado vergeblich zu strukturieren sucht. Feine Details. Insgesamt aber bleibt die symbolistisch klingende Wuchtbrumme. Ohne Schrei. Ohne Fanal.

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