Applaus Kultur-Magazin 2/2003 (C. Hartmann Verlag, München)
»Wer ist, bitte, Hugo Wolf?« Vor hundert Jahren - am 22. Februar 1903 - starb Hugo Wolf. Dietrich Fischer-Dieskau, dessen Karriere als Sänger wesentlich vom Werk Hugo Wolfs mitbestimmt wurde, hat dem »Genie des deutschen Kunstliedes« eine große Biografie gewidmet. APPLAUS: Herr Professor Fischer-Dieskau, was motivierte Sie, sich rund zehn Jahre nach Ihrer Debussy-Biografie dem Liedkomponisten Hugo Wolf zuzuwenden? DIETRICH FISCHER-DIESKAU: Für mich war es insofern ein Herzensbedürfnis, eine neue Biografie Hugo Wolfs zu schreiben, als ich mein gesamtes musikalisches Leben mit ihm zugebracht habe. Ich begann mit Hugo Wolf schon in der Kriegsgefangenschaft in Italien: Da wir das Lager nicht verlassen durften, ließ ich mir aus einer Bibliothek in Bologna einen Auswahlband aus dem Italienischen Liederbuch beschaffen und studierte die Stücke ein. Das war mein »erster Hugo Wolf«. Später war dann mein erster Liederabend in Berlin teilweise dem Italienischen Liederbuch gewidmet. Und auch bei meiner ersten Kassette mit LPs in Deutschland handelte es sich um eine Sammlung von Wolfs Mörike-Liedern. Betrachten Sie Hugo Wolf musikalisch als Ihren »Abgott«? Nein, keineswegs. Meine Haltung zu Hugo Wolf ist so, wie sie der Leser des Buches vielleicht auch empfinden mag: Dass man einerseits von seiner Person angezogen wird durch die unbedingte Geradheit seines Lebens und Strebens, andererseits aber manchmal abgestoßen wird durch die Schwierigkeit seines Charakters. So erging es mir auch mit seiner Musik. Einmal fühlt man sich völlig in seinen Bann gezogen, ein anderes Mal fühlt man sich durch die Zertrümmerung des Textes, das Deuten und Auseinandernehmen jedes Wortes in der Musik gestört. Wie ist es Ihnen gelungen, die in Ihrer Biografie zutage tretende vielschichtige Persönlichkeit Hugo Wolfs zu entziffern, nachdem im Lauf der Jahre seit seinem Tod wichtiges Material verloren gegangen ist? Frank Walker hatte bei seiner großen Wolf-Biografie aus den dreißiger Jahren, die er in den fünfziger Jahren noch einmal herausgegeben hat, Rücksicht zu nehmen auf zahlreiche noch lebende Personen, Angehörige Hugo Wolfs, Nachfahren seiner engsten Freunde usw. So kommt bei ihm zum Beispiel so gut wie gar nicht vor, welche »Frauengeschichten« im Leben von Hugo Wolf eine Rolle gespielt haben. Immerhin sind in seinen Materialien einige Nachrichten enthalten, die Hugo Wolf nicht nur als seriösen, einzig seinem künstlerischen Schaffen ergebenen Komponisten beschreiben, sondern ihn durchaus als einen widerborstigen und unter gewissen Umständen auch treulosen Freund charakterisieren. Da mir der Nachlass von Frank Walker zur Verfügung stand und dazu von der ungemein engagierten Londoner Hugo-Wolf-Society auch noch jener des Schallplattenproduzenten Walter Legge, der in den dreißiger Jahren selbst eine Wolf-Biografie schreiben wollte, konnte ich einige biografische Lücken schließen. Ich stieß in diesen Hinterlassenschaften auf sehr wichtige Zeugnisse von Nachfahren und Freunden Hugo Wolfs, die in meine Biografie Eingang fanden. Eine Anzahl wichtiger Materialien ist aber auch vernichtet worden? Dabei handelt es sich vor allem um Berichte über die Krankheit von Wolf. Aus seiner letzten Lebensphase ist so gut wie gar nichts auf uns gekommen: Zwei Krankenberichte und zwei Arztberichte, das ist alles. Einzig darauf stützen sich denn auch die Veröffentlichungen von mehreren Medizinern in den zwanziger und dreißiger Jahren. Zweifellos hatte hier die Familie Wolfs ihre Hand im Spiel. Sie bezeichnen Wolf als eine der tragischsten Persönlichkeiten unter den deutschen Komponisten. Worin liegt aus Ihrer Sicht die Besonderheit seiner Tragik? Die größte Tragik Wolfs liegt wahrscheinlich darin, dass er auf Einfälle wartete. Er war sehr an das Wort gebunden, bevorzugte es, auf Worte zu komponieren und zögerte immer, ohne Wortvorlage Musik zu schreiben. Standen ihm für den Augenblick keine Worte zur Verfügung, verfiel er in Verzweiflung, obwohl er sich ohnehin gerade in einer Phase der inspiratorischen Dürre befand. Wenn schließlich ein Schub kam, der ihn zwang, in einem wahnsinnigen Anfall von drängenden Einfällen zu komponieren, dann befand er sich zwar in einer unbeschreiblichen Euphorie, bald aber sah er sich erneut einer großen Leere ausgesetzt. Diese Leere war für ihn nur schwer durchzustehen. Nun betonen Sie an anderer Stelle, dass Wolf im Grunde ein »frohgemuter« Mensch war … Den Begriff »frohgemut« sollte ich vielleicht etwas relativieren. Immerhin war Hugo Wolf durchaus zu Witz und übertriebener Fröhlichkeit mit Freunden neigend. Doch seine tragische Grundsituation ist schon bedingt durch viele, ihn seit frühester Zeit begleitende Widrigkeiten auf seinem künstlerischen Weg, so dass er sein Leben lang eine trotzige Abwehr gegenüber seiner Umwelt an den Tag legte. Ihm ging es immer nur um sein Werk, um seinen künstlerischen Auftrag, den er in sich spürte und den er darin sah, etwas zu schaffen, das über die Zeiten hinweg gültig bleiben sollte. Doch die Erfüllung dieses Auftrages gelang ihm leider nur innerhalb sehr kurzer Phasen. War Wolfs Krankheit die Ursache dafür, dass es ihm an »Kraft für größere Vorhaben«, wie Sie schreiben, gebrach? Nein. Hugo Wolf hätte sicher das Zeug zu einem neuen großen Sinfoniker gehabt und wäre auf dem Gebiet der sinfonischen Dichtung zu einer Konkurrenz für Richard Strauss geworden, wenn es ihm möglich gewesen wäre, gewisse sich für ihn negativ auswirkende Eigenschaften zu überwinden. Doch das ist ihm versagt geblieben, ausgelöst vielleicht durch seine ersten frühen Misserfolge, die ihn zu persönlich trafen. Größere Formen bereiteten ihm Schwierigkeiten. Er vermochte es nicht, über viele Seiten hinwegzudenken. Sein Jähzorn, der ihn angesichts seiner oft von ihm selbst verschuldeten oder zumindest mitverschuldeten Missgeschicke packte, hinderte ihn daran, bei einer »großen Sache« zu bleiben. Neben seiner Launenhaftigkeit war es aber auch seine Unsicherheit in der Textwahl, die ihm den Weg versperrte. Tatsächlich waren seine Freunde ständig bemüht, neue Pläne an ihn heranzutragen. Textbuchentwürfe aller Art wurden ihm vorgelegt und mit den berühmtesten Dichtern seiner Zeit machte man ihn bekannt. Doch stets schreckte er zurück: Über Gerhard Hauptmann sagte er, er benehme sich, als wäre er, Hugo Wolf, sein Sklave und er denke gar nicht daran, eine Oper nach einem Text von Hauptmann zu komponieren. Dabei hatte er sich sehr wohl - und dies sogar in Bezug auf mehrere Stücke Hauptmanns - mit solchen Gedanken getragen. Ähnlich verhielt es sich mit dem damaligen Dichterfürsten Hermann Sudermann: Auch ihm gegenüber wollte er kein »Musikdiener« sein. Diese Art von Abwehr, die ihn beherrschte, war jedoch zugleich die Triebfeder seines künstlerischen Schaffens: Suchend und nicht findend. Bestehen zwischen den Liedern Wolfs und der Tragik seines Lebens direkte Bezüge? Das ist das Bemerkenswerte: Nein. Wolf hat sich von Anfang an als eine Art Darsteller der Texte gefühlt, im Grunde wie ein Schauspieler, der in der Lage ist, vollkommen in der gegebenen Rolle aufzugehen. Auf diese Weise hat er eine undefinierbare und schwer nachzuvollziehende Einheit des Stils erreicht: Seine Mörike-Lieder etwa sind erkennbar als solche, die in einen Band gehören, und ebenso als zusammengehörend erkennbar sind die fast zur gleichen Zeit entstandenen, aber doch ganz anders gearteten Lieder des Goethe-Bandes. Man kann diese Lieder sofort aus- einanderhalten. Diese Kunst wird für immer Wolfs Geheimnis bleiben. Ist es legitim, Wolf als den letzten großen deutschen Liedkomponisten zu bezeichnen? Dem kann ich ohne weiteres zustimmen. Was er in den kurzen Phasen seines Schaffens an herrlicher Musik aus sich herausgepresst hat, zählt zu den erstaunlichsten Leistungen auf diesem Gebiet. Im Grunde hat er sich gar nicht sehr weit entwickelt. Er ist in seinen Jugendgesängen schon hart in die Nähe seiner späteren Mörike-Lieder gerückt, wenn sich sein Genie auch erst in den Mörike-Liedern voll entfaltete. Aber es gibt von ihm ein paar Heine- und auch Lenau-Vertonungen, die durchaus schon an diese Mitte heranreichen. Dennoch ist er in den hundert Jahren seit seinem Tod in sehr weite Ferne gerückt. Mit ihm verbinden die meisten nicht allzu viel … Das muss ich leider bestätigen. Als ich einem bekannten deutschen Verlag mein Manuskript zur Veröffentlichung anbot, noch bevor sich der Henschel Verlag dafür entschied, bekam ich von der Verlagsleitung die irritierte Anfrage: »Wer ist, bitte, Hugo Wolf?« Sie haben im Laufe Ihrer Gesangskarriere nahezu alle Lieder von Hugo Wolf gesungen. Was waren Ihre persönlichen Erfahrungen bei der Interpretation von Wolf-Liedern? Die Herausforderung bestand darin, aus diesen oft wirklich gesprochenen Stücken - schon unter seinen frühen Werken finden sich solche - Gesangsstücke zu machen. Im Werk von Wolf finden sich Stellen, die in ihrer ausbruchhaften Dramatik und in ihrer Gebundenheit an das Wort mit dem ursprünglichen Liedgesang nichts mehr gemein haben, erschöpfen sie sich doch darin, das Wort in der Komposition zu erläutern. So kann bei ihm in vielen Fällen nur mehr von »Sprechen« die Rede sein, wenn er Silbenwiederholungen auf einer Note bringt, während die Melodie dem Klavier vorbehalten bleibt. Vor diesem Hintergrund ging es darum, die musikalischen Linien herauszufinden, ihnen zu folgen und damit grundsätzlich die Musik vorherrschen zu lassen, wobei es natürlich auch wichtig war, alles, was sich an verzwickten harmonischen und raffinierten psychologischen Wendungen in der Begleitung findet, mitzuempfinden und mitzugestalten. Das sind alles schwierige Aufgaben, vor die sich jeder Hugo-Wolf-Sänger gestellt sieht. Besonders schwierig sind sie für nichtdeutsche Interpreten. Denn ihnen ist es verwehrt, ganz und gar in die Psychologie der deutschen Lyrik einzudringen, es sei denn, sie nähren sich von fabelhaften Übersetzungen. Doch das geschieht in den seltensten Fällen. Meist versuchen sie, den deutschen Text zu studieren und damit zu arbeiten. Das allerdings reicht bei Hugo Wolf nicht aus. Wo sehen Sie die Gründe für die auch von Ihnen beklagte Marginalität Hugo Wolfs im zeitgenössischen Konzertleben? Der Grund lässt sich nicht einfach benennen. Mir ist er nicht klar, es sei denn, die gesamte Gattung des Liedgesangs befindet sich bereits im fortgeschrittenen Stadium des Vernachlässigtwerdens. Wir hatten einmal Zeiten - ich würde sagen zwischen 1900 und 1920 - , in denen sehr viele Liederabende gegeben wurden: Doch diese Kultur ist dann aus Mangel an kompositorischem Nachwuchs langsam zu Ende gegangen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wiederum waren wir alle sehr durstig nach jeglicher Art von Kammermusik und da gab es für Liederabende ein enorm großes Publikum. Ich bin sehr glücklich, dass ich gerade in diese Zeit hineingeraten bin und mich für den Liedgesang engagieren konnte. Ich ließ mich auch nicht davon abbringen, »reine Programme« anzubieten. Das war für mich ein wesentlicher Bestandteil meiner Arbeit. In der Praxis verhält es sich so, dass durch die längere Bekanntschaft mit einem so filigranhaften Werk wie dem von Hugo Wolf doch eine gewisse Nähe entsteht und sei es auch, dass der Hörer überhaupt erst nach dem sechsten oder achten Lied beginnt, mitzugehen, mitzudenken und schließlich zu verstehen. In diesem Herstellen einer »Liebesgemeinschaft zwischen Vortragendem und Zuhörendem« liegt denn auch, wie das schon Furtwängler in seinem berühmten Vortrag Der Künstler und sein Publikum so treffend ausgedrückt hat, der Sinn eines Konzerts. Glauben Sie, dass es eines Tages zu einer Wiederentdeckung des Werks von Hugo Wolf kommen wird? Das halte ich durchaus für möglich, auch wenn ich diesen Tag wohl kaum mehr erleben dürfte. Das Lebenswerk von Elisabeth Schwarzkopf beruht, ebenso wie das meine, zu einem guten Teil auf Wolf-Interpretationen. Wir haben immer versucht, das Werk von Hugo Wolf lebendig zu erhalten. Nie hatten wir dabei den Eindruck, einem dem Vergessen geweihten musikalischen Erbe zu dienen. Mir erscheint wichtig, dass an den Werten, die aus dem 19. Jahrhundert auf uns überkommen sind, festgehalten wird und dass wir versuchen, daraus neue Fundamente zu errichten, auf denen die nachfolgenden Generationen ihre eigenen Leistungen erbringen können. Interview: Adelbert Reif |
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