"Un frisson nommé Varady" aus "Le Monde de la Musique" (Nov. 2004)

frisson = Schauer, Frösteln, Schauder schaudern, zittern

Ein Kribbeln namens Varady

Stillschweigend hat Julia Varady ihre Karriere nach 41 Jahren beendet. Lediglich CDs lassen uns den einzigartigen Schauer ihrer Stimme erleben.

Die schönsten Rosen haben Stacheln. Für Interviewer ist es nicht leicht, zu Julia Varady zu gelangen. Am Telefon erläuterte die berühmte Sopranistin, wie man ihr Heim in der Umgebung von München erreicht. "Am Flughafen-Ausgang nehmen Sie die S-Bahn Linie 1 oder 8, das ist egal. 40 Minuten später kommen Sie am Hauptbahnhof an. Dort steigen Sie aus. Am Bahnsteig gegenüber nehmen Sie die Linie 6 Richtung Tutzing. Nochmal gut 40 Minuten und Sie kommen in Starnberg an. Dort gehen Sie zum rechten Ausgang, zur Unterführung der Eisenbahn. Das Bequemste ist, von dort ein Taxi zu nehmen bis zu meinem Haus. Ah, ich vergaß: kommen Sie nicht vor 15.30 Uhr, ich mache eine Siesta."

Am Tag X, mittags, begann die Operation S-Bahn: Wie kann man einem Billett-Automaten klarmachen, daß Sie Franzose sind und nicht die Sprache Goethes sprechen? Mein Bemühen, eine Fahrkarte aus dem Automaten zu erhalten, endete mit der Hilfe zweier spanischer Touristen. Es regnete Bindfäden. Das Ticket verwandelte sich in ein kompostreifes Etwas. Schließlich war ich im Zug. Angekommen springe ich in ein Taxi, gebe die Adresse an; die Villa befindet sich auf Nr. 16 einer kurzen Allee, aber nach der Nr. 14 - nichts! Keine 16! Das Taxi dreht eine Runde. Endlich alarmiert mich hinter einer Koniferen-Hecke die unverkennbare Stimme von Julia Varady: "Hierher!" Ich bin im Hafen. Hohe hervorspringende Backenknochen, blaue Augen einer siamesischen Katze, Schwanenhals, nervöses Lächeln, das die Zähne des Glücks (???) erscheinen läßt, dichtes blondes Haar, in der Bewegung aschfarben, fieberhaft redend während sie mich zum Eingang schiebt, bestätigt Varady: "Es ist unmöglich, mein Haus zu finden. Kaffee oder Tee? Ich habe Ihnen kleine Kuchen vorbereitet, die Sie nicht ausschlagen dürfen, sie sind ohne Zucker!"

Der Salon in der Ecke ist geräumig, hell; ein Klavier, CDs, eine Sammlung Schallplatten entlang der Wände, hunderte von Partituren. An den Wänden Gemälde ihres Mannes Dietrich Fischer-Dieskau (lesen Sie ebenfalls S. 66-70), der sich hier aufhält, lächelnd und bequem auf einem großen Sofa sitzend. Hinten öffnen sich große Glastüren auf einen mit herrlichen Rhododendren bepflanzten Rasen. "Eine Sängerin hat keine Zeit, sich um kleine Blumen zu kümmern, sie braucht robuste!"

"Singen, eine Notwendigkeit"

Nach 41 Karriere-Jahren zieht sich Varady von der Bühne zurück. Warum, da doch ihre Stimme intakt ist? "Das ist der richtige Augenblick, ich debütierte 1961..."

Julia Varady erblickte das Licht der Welt 1941 in Oradea, an den beweglichen Grenzen von Transsylvanien, in dem Gebiet von Rumänien, das durch einen Zufall der Geschichte auch ungarisches Territorium ist. "Mein Vater war mehr oder weniger Ungar; auf meiner Mutter Seite waren Deutsche, ursprünglich aus Sachsen. Mein Großvater spielte Geige und meine Großmutter hatte eine sehr schöne Stimme. An Feiertagen stellte mein Großvater stets die gleiche Frage: Welche Fahne sollen wir aus dem Fenster hängen? Meine Mutter hätte so gerne eine künstlerische Karriere ergriffen, sie war auch nie dagegen, wie meine Schwester und ich unser Leben führten. Meine Schwester wurde Schauspielerin und ich Sängerin."

Varady erinnert sich an den guten Unterricht, den sie am Konservatorium in Cluij und dann in Bukarest durch Arta Florescu erhalten hat. "Es gab dort eine gesunde Rivalität unter den Schülern. Auf dem Lyzeum für Musik lernte man mit 13 Jahren neben humanistischen Fächern auch ein Instrument, dann nach und nach Gesang. Während 5 Jahren erhielt man täglich eine Gesangslektion. So vorbereitet kam man ins Konservatorium für weitere 5 Jahre. So hatte ein Student mit 23 Jahren 10 Jahre Praxis hinter sich. Nur eine fundierte Technik sichert der Stimme ein langes Leben. Dazu bedarf es einer guten Lebenshygiene für seinen Körper: keine Zigaretten, Alkohol, zu lange Abende ohne Schlaf. Ich arbeite enorm im Garten, das ist mein Sport. Viele Leute glauben, daß es sich um Entsagung handelt. Aber Singen ist kein "Job", das ist eine Notwendigkeit, sich auszudrücken." In ihren jungen Jahren hatte Julia Varady eine ausgesprochen tiefe Stimme. Als sie etwa 14 war, stellte sie eine Entwicklung zu einer höheren Stimmlage fest. Mezzosopran oder Sopran, es mußte eine Wahl getroffen werden. Emila Popp, von der Varady geliebte Professorin im Konservatorium, zögerte. Welche Stimmlage wird mir die besten dramatischen Rollen ermöglichen? fragte Varady sie. Die Antwort von Madame Popp ist klar: die des Soprans. "Soprano lirico spinto dramatique" präzisiert Fischer-Dieskau, aufmerksamer Zeuge dieser Unterhaltung und Kunstfreund (amateur = Kunstfreund, Liebhaber). Varady fuhr fort: "Ich studierte die beste Methode des romantischen Belcanto, die Methode Garcia. Ich hörte aufmerksam meinen Professoren zu aber viele Sachen kamen instinktiv. Ich hatte nie Schwierigkeiten, mich in eine andere Figur zu versetzen. Die deutsche Sprache war mein einziges großes Problem."

Sopran total. Varady konservierte nichtsdestoweniger das tiefe Register ihrer Stimme. 1962, nach 5 Jahren Musikhochschule in Cluij, zur Zeit ihrer ersten Saison bei der Städtischen Oper, interpretierte sie die Heroinen von Mozart (Pamina, Fiordiligi), Verdi (Desdemona), Mascagni (Santuzza) aber auch Rollen im Mezzofach wie Konchakovna (Prinz Igor von Borodin) oder Marfa (La Khovantchina von Mussorgsky). Man weiß weniger, daß sie eine Rossini-Interpretin war. "Ich habe die Rosine im Barbier von Sevilla und Le Comte Ory gesungen; im Konzert die großen Arien aus Semiramis oder La Cenerentola. Ich wußte, daß meine Stimme sehr dunkel für dieses Repertoire war, aber das lehrte mich, mich anzupassen. Ich bleibe überzeugt, daß der Gesang eine Frage des Instinkts ist. Ein Sänger muß in der Lage sein, automatisch die Farben der Rolle zu erfassen. Nach den 6 Jahren an der Oper in Cluij bekam ich Verbindung mit Peter Katona und dem Chef Christoph von Dohnányi, damals Direktor der Frankfurter Oper, der mich ohne Zögern in das Ensemble engagiert hat. In einem Jahr habe ich Donna Elvira interpretiert, die Elisabeth aus Don Carlos, die Antonia aus Hoffmanns Erzählungen, Saffi aus dem Zigeunerbaron, das Junge Mädchen aus Moses und Aron." Wie dieses Repertoire zeigt, ist das dramatische Spiel von vitaler Wichtigkeit für die Karriere der Varady. "Man kann Intuition nicht erklären, noch weniger sie erwerben. Aber mit der Zeit lernt man die Feinheiten herauszuarbeiten."

Im Gegensatz zu vielen Kolleginnen war Varady nie darauf aus, mit ihren Rollen um die Welt zu reisen. " Ohne eine Stubenhockerin zu sein fühle ich mich am wohlsten zu Hause in einem Theater oder in einer Stadt. Ich habe viel gesungen in Paris und Wien, aber nur ein- oder zweimal in London." An der Met in New York hatte sie einen großen Erfolg als Elvira. "Dann bot man mir die Musette in Bohème an, die ich ablehnte. Und auch Senta und den Komponisten aus Ariadne, aber nicht in den neuen Produktionen. Ich verlange nicht systematisch neue Produktionen aber ich möchte wenigstens proben können und ich habe niemals auf diesem Gebiet Kompromisse gemacht. Auf jeden Fall hatte ich keine Lust, Wochen von zu Hause fort zu sein." Fischer-Dieskau unterbricht, um zu präzisieren: "Julia lernt auch die anderen Rollen eines Werkes. Im Othello kann sie die komplette Titelrolle oder die des Jago singen! Das ist ihre Art, das Werk am besten zu verstehen."

Nicht zweimal sterben

(Pour brillante que soit une carrière, les fausses notes sont inévitables. So brillant eine Karriere ist, sind falsche Noten unvermeidlich.)

Obwohl eine ausgezeichnete Wagner-Interpretin (Senta, Sieglinde auf der Bühne, Elsa im Konzert) hat Varady niemals in Bayreuth gesungen. "Als Giuseppe Sinopoli es mir vorgeschlagen hat, war ich für 2 Tage zu einer Premiere in München und ich habe ihm gesagt, daß ich ihm gleich danach antworte. Zu spät! Auch bedauere ich, nicht die Isolde gesungen zu haben. Es gab auch die verpaßte Schallplatten-aufnahme der Traviata unter Carlo Maria Giulini. Ich hatte um 2 Wochen Bedenkzeit gebeten. Man hat eine andere Sängerin gewählt, die schließlich nicht entsprach und die Platte ist nie erschienen. Das war die gleiche Sache mit Nabucco und Die Macht des Schicksals."

Zahllos sind die Musikfreunde, die davon träumten, Varady in der Rolle des Fidelio zu hören. 1986 entschied sie sich, Beethovens Oper konzertant unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt zu singen: "Ich war sehr erleichtert, daß ein Sprecher die Handlung begleitete. Deutsch ist nicht meine Muttersprache und ich hatte Angst, meine Stimme durch sprechen zu ermüden." Sie kam niemals zu dieser Rolle. Eine andere Rarität in ihrer Karriere: die zeitgenössische Oper. "Es gab wenig Gelegenheit für mich in diesem Repertoire. Die Lulu von Alban Berg ist vom Text her sehr akzentuiert. Aber ich habe während der Interpretation der Cordelia in Reimanns "Lear" festgestellt, daß es keinen Unterschied macht, eine zeitgenössische Oper oder Verdi zu singen."

Läßt ihr Abschied von der Bühne einen bitteren Geschmack zurück? Die Antwort .... (fuse ??? vielleicht: "wie aus der Pistole geschossen"): Oh ja, das ist ein schwerer Verlust (Schweigen!), jedoch ein Verlust erfüllt mit Genugtuung. 41 Karrierejahre! Und eine Karriere mit Hauptrollen, das ist selten bei einem Sopran. Zwei Jahre nach meinem Abschied von der Bühne habe ich beim Festival von Montpellier die konzertante Version von Puccinis Edgar gesungen und meine definitiv letzte Interpretation war im Deutschen Requiem von Brahms letztes Jahr im Salzburger Festspielhaus unter der Leitung meines Mannes. Ich vergleiche meinen Verlust mit dem Kummer eines kleinen Kindes: nach den Tränen kommt das Lächeln. Die Vergangenheit ist ein Vergnügen. Ich sage mir manchmal, daß ich zu früh aufgehört habe, daß ich noch gewisse Rollen besser singen könnte als viele junge Interpretinnen, aber im Grunde ist es gut so. Und dann bin ich auch nicht immer einverstanden mit den Regisseuren unserer Tage. Die letzte Produktion, mit der ich sehr zufrieden war, ist Nabucco von Verdi, in Szene gesetzt von Robert Carsen an der Opera Bastille. Seitdem habe ich viele Spektakel gesehen, die mich nicht angezogen haben. Und dann, heute, Karajan, Solti, Carlos Kleiber und Giuseppe Sinopoli sind tot. Giulini ist stehengeblieben (s'est arrêté), Abbado und Sawallisch dirigieren keine Opern mehr. Es bleiben Gardiner, Muti. Und auch Pinchas Steinberg und Christian Thielemann, mit dem ich gut gearbeitet habe."

Julia Varady gibt von jetzt ab Meisterklassen in der Eisler-Hochschule in Berlin. "Ich bin glücklich, diese Nische gefunden zu haben, wo ich noch für einige Studenten mit Orchester singen kann. Ich habe das Gefühl, daß meine Erfahrung ihnen etwas gibt, daß ich ihnen nützlich bin. Zubin Mehta, der mich zur Rückkehr auf die Bühne locken wollte, habe ich geantwortet: Ich will nicht zweimal sterben! Ich bin zufrieden meine Platten zu hören. Während meiner Karriere hörte ich mich von innen, heute habe ich die Distanz zu urteilen. In aller Bescheidenheit, ich liebe was ich höre und ich denke meine Arbeit gut gemacht zu haben."

Es ist 18.30 Uhr, es wird dämmerig, das Interview ist beendet, ich muß wieder die S-Bahn zum Flughafen nehmen. Es regnet von neuem. Varady bietet mir an, mich zum Bahnhof Starnberg zu bringen. Sie lacht. Sie bietet mir ihren Schirm an, "Hüten Sie ihn, hüten Sie ihn!" Die Fahrt gibt mir Gelegenheit, ihr eine letzte Frage zu stellen: "Was werden Sie morgen machen?" - "Ich fahre mit meinem Wagen an den Plattensee in Ungarn, um den 90. Geburtstag meiner Mutter zu feiern. Es geht ihr sehr gut, sie bildhauert den ganzen Tag..."

Georges Gad; Übersetzung ins Deutsche von Margarete Trauch

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