Berliner Zeitung 10. Januar 2003

"Warum singst du nicht alles?"

Vom Glück des Zuhörens: Der Sänger Dietrich Fischer-Dieskau übt in Berlin mit seiner Meisterklasse ganz öffentlich

Arno Widmann BERLIN, 9. Januar.

mit seinem Schüler Mirko Janiska

Dietrich Fischer-Dieskau steht am Flügel und blickt hinüber zur Sängerin. "Sie müssen kurz vor dem Klavier einsetzen. Ganz kurz, aber vorher." Die junge Frau lässt die Schultern hängen und versucht ihm zu erklären: "Ich habe Angst, zu früh einzusetzen." Fischer-Dieskau sieht sie kurz an, dann schaut er weg und sagt: "Angst. Nein. Auf keinen Fall. Auf keinen Fall Angst haben. Das darf man nicht."

Er sagt es nicht zu ihr. Er sagt es auch nicht ins Publikum. Er sagt es so, dass man glaubt, er sage es zu sich, als wisse er, wie schrecklich einem die Angst zusetzen kann und als habe er sich eben daran erinnert. Schmerzlich erinnert.

Die jungen Sängerinnen und Sänger haben Angst oder sind doch zumindest nervös. Sie sind hier in der Musikhochschule im Studiensaal in der Berliner Fasanenstraße in der Meisterklasse Dietrich Fischer-Dieskaus und tragen ihre Interpretationen von Liedern Hugo Wolfs vor. Es gab niemanden auf der Welt, der Lieder besser sang als der jetzt 77 Jahre alte Fischer-Dieskau, der gerade aufgerichtet, alle seine Schüler überragend vor ihnen steht und freundlich bestimmt ihnen sagt, was sie tun müssen, um besser zu werden. Einen weiteren, freilich verglichen damit unerheblichen, Teil tragen zum Lampenfieber der Schüler die achtzig bis hundert Menschen im Zuschauerraum bei. Fischer-Dieskaus Meisterklasse probt öffentlich.

Es ist immer ein Vergnügen, anderen beim Arbeiten zuzusehen. Das wohlige Gefühl, das Schweißausbrüche auf fremden Stirnen verschaffen, ist kaum zu überbieten. Aber es ist nichts im Vergleich zu dem, das sich einstellt, wenn die anderen gut arbeiten, voller Freude, wenn sie vorankommen, Fortschritte machen, wenn sie es mit hoher, alle Sinne und den ganzen Verstand beanspruchender Intensivität machen. Dann nämlich genießen die Zuschauer nicht mehr ihr Nichtstun, sondern fühlen sich beflügelt, angestachelt zu eigenem Tun.

Der Mensch erfährt sich - so spüren sie dann - doch am besten als tätiges, als arbeitendes Wesen. Dieses seltene Glück widerfährt den Zuschauern und Zuhörern in Fischer-Dieskaus Meisterklasse in der Fasanenstraße. Hier wird die Schaffenslust geweckt. Besseres lässt sich von nichts auf der Welt sagen.

Wenn Fischer Dieskau beiseite von der Angst spricht, nimmt man es zunächst ganz ernst, bis man begreift, er ist ein Komödiant, ein Bühnenmensch. Er will der jungen Frau die Angst nehmen, und das tut er am besten nicht, indem er sie leugnet, sondern indem er sie mit ihr teilt. Diskret, aber doch demonstrativ. Das gelingt ihm wunderbar.

Alle singen nach zwanzig Minuten mit ihm deutlich besser. Nicht so sehr, weil sie ihm abgeguckt hätten, wie er sich räuspert und wie er spuckt - obwohl beim Singen ja fast alles darauf hinausläuft -, sondern weil er sie aufrichtet, ihnen die Angst nimmt vor ihm, vor den Zuschauern und, wichtiger noch, vor den eigenen Schwächen. Es geht Fischer-Dieskau nie um den einzelnen Fehler. Er spricht keinen der zahllosen falschen Töne an. Sie scheinen ihm völlig gleichgültig. Stattdessen entfernt er die Sängerin vom Flügel, stellt sie in die Mitte der kleinen Bühne, heißt sie geradezustehen, den Kopf hochzunehmen. "Senke nicht das Kinn. Wie soll der Ton da gerade herauskommen?" Er führt es ihr vor, lacht dabei.

In solchen Momenten ist er kaum älter als seine Schüler, ein aufmunternder Kamerad. Er korrigiert keine Fehler, sondern er versucht die Haltung, aus der heraus sie entstehen, zu ändern. Wenn man richtig geht und steht, wird alles wie von selbst richtig, scheint seine Botschaft zu sein. Er stellt sich vor einen jungen Bariton und beide singen einander an. Der junge Mann versucht Fischer-Dieskau die Phrasierung abzugucken und Fischer-Dieskau freut sich, dass sein Atem ausreicht, dass er mithalten, ja in kurzen Abschnitten den jungen Mann immer noch weltenweit übertreffen kann. Es ist ihm nicht wichtig, aber an ein paar Stellen kann er nicht anders. Es ist die Lust am Spiel mit den eigenen Möglichkeiten, mit denen von Text und Musik. Er muss einfach zeigen, wie viel erotische Anzüglichkeit in den zwei Eichendorff-Zeilen "Wenn wir zwei zusammen wären, Möcht mein Singen mir vergehn." steckt.

Vorausgesetzt, man sieht und hört sie und man verfügt über seinen Klangkörper so souverän, dass er alles - die Wörter und die ihnen ironisch widersprechenden Gedanken - ausdrücken kann. Ausdrücken? Das langt nicht. Gesungen muss man werden. Auch das "Möcht mein Singen mir vergehn" muss gesungen werden. Das gibt der Geschichte einen zusätzlichen Reiz. Es ist aber auch das Credo Fischer-Dieskaus.

"Warum singst du nicht alles?" fragt er eine der jungen Sängerinnen. Sie mag nicht. Sie bricht immer wieder aus dem Vibrato aus und spricht das eine oder andere Wort. Das ist heute mancherorts modern. Hier nicht.

Fischer-Dieskau ist der Brontosaurus rex des puren Gesangs. Keine Silbe, die nicht von seinem aus der Tiefe der Brust gehobenen Atem erwärmt würde. Jeder Laut lebt. Der Kunstgesang ist Ausdruck. Er zeigt, was im Innern einer Person sich abspielt. Es geht nicht um Kunststückchen, es geht um Kunst. Und die ist nichts Anderes als der Versuch, sich klar zu werden über die labyrinthischen Irrungen unseres Gemütes.

"Versetze dich in die Lage ." , "stell’ dir vor .", "Er liebt sie. Sie liebt ihn. Aber sie liebt noch zwei andere. Das setzt ihm zu." "Du musst dir etwas denken, du musst etwas fühlen beim Singen." Der junge Mann ist verwirrt. Er dachte, er würde hier Tricks erlernen. Stattdessen will ihm der alte Mann, der freilich, solange er redet, jünger scheint als der junge, erklären, was Liebe ist, gar unerwiderte Liebe. Als wüsste er etwas davon, als hätte er es nicht längst vergessen in den Jahrzehnten, die es zurückliegen muss, falls er es doch einmal erlebt haben sollte.

Aber die allerwichtigste Lektion, die Fischer-Dieskau seinen Schülern und auch uns, seinen Zuhörern, erteilt lautet: Nichts Menschliches sei uns fremd. Der Sänger muss sich einfühlen, er muss verschmelzen mit Lust und Leid seiner Müllergesellen, Musikanten und Mignons. Und er muss wissen, wann er wieder der Erzähler wird, der Lust und Leid nicht erlebt, sondern von ihm nur singt. Der Sänger muss - das ist manchmal schwer genug - die Noten treffen, aber vor allem muss er treffen, worauf die Noten zielen. Dazu kann er gar nicht genug wissen. Er kann gar nicht genau genug lesen. Nicht nur seinen Text und seine Noten, sondern ebenso genau die des Klaviers oder des Orchesters. Ihm entgeht sonst, dass drei Takte lang, während die Singstimme erzählt, das Klavier leidet. Dieser Gegensatz muss herausgearbeitet werden. Er bereichert nicht nur die Komposition, er erinnert auch daran, dass die Mitteilung des Leides oder der Freude Genuss bereitet.

Fischer-Dieskau ist - wie wahre Jugend ein Leben lang - neugierig. Er liest nicht nur Textbücher und Partituren. Er liest alles, das ihm zwischen die Finger kommt und ihm die Musik und die Musiker erhellen kann. Hugo Wolf zum Beispiel hat er nicht nur gesungen, er hat auch ein Buch über ihn geschrieben. Er kennt jede Zeile, jede Note und er kennt sie nicht aus primanerhaftem Bildungsdünkel, sondern aus Begeisterung. Was man wissen will, fliegt einem zu. Man wird nicht müde, das Erworbene zu üben, es hin- und herzuwenden, es in immer neuen Variationen auszuprobieren.

Genau das empfiehlt er seinen Schülern. Aber er müsste es nicht empfehlen. Sein Beispiel beflügelt.

In Eichendorffs "Nachtzauber" finden sich die Zeilen: "Kennst die Blume du, entsprossen in dem mondbeglänzten Grund. Aus der Knospe, halb erschlossen, junge Glieder blühendsprossen, weiße Arme, roter Mund ..."

"Du musst dir das vorstellen. Diese Knospe, aus der junge Glieder, weiße Arme, roter Mund hervorwachsen. Du musst staunen." "Also halbe Noten" "Das muss man sich vorstellen ." Die junge Sängerin wollte sich eine Notiz in ihre Noten machen. Aber Fischer-Dieskau stellte sich neben sie hin und sah aus einer Knospe, die nicht zu sehen war, Glieder, Arme und Mund hervorwachsen, die auch nicht zu sehen waren, die wir alle aber doch sahen. In seinem Gesicht. Bei jedem O, bei jedem U schienen sie aus dem geöffneten Rund seines Mundes hervorzukommen und vor uns in surrealer Artigkeit Platz zu nehmen. Das Schönste aber war, als die junge, ungläubige Sängerin sich die Zeit nahm und es sich vorstellte, was da, zwar nur im Lied, aber jetzt doch vor ihr geschah - da sahen wir es auch bei ihr und es fand eine Wandlung statt. Das Wort ward Fleisch.

Und in der Berliner Fasanenstraße kann man an diesem Freitag, 16 bis 18 Uhr, wieder zuhören.

 

Der Tagesspiegel 10. Januar 2003: