Richard Sennett: Respekt im Zeitalter der Ungleichheit

© Berlin Verlag 2002. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff.

Die Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel "Respect in a World of Unequality" bei W. W. Norton, New York.

Kapitel 2: Was ist Respekt?

..........

Als ich erstmals Kammermusik zu spielen begann, sagte meine Lehrerin, ich solle meine Mitspieler respektieren, ohne weiter zu erklären, was sie damit meinte. Doch Musiker lernen solche Dinge meist nicht durch Worte, sondern durch Hören. Ein erhellendes Beilspiel dafür liefern zwei große Musiker, der Sänger Dietrich Fischer-Dieskau und der Pianist Gerald Moore, bei der Aufführung eines der bekanntesten Schubert-Lieder, das den Titel "Der Erlkönig" trägt. Wir können uns gut vorstellen, dass sie vor dem Auftritt etwas nervös sind, denn bei diesem Lied ist es besonders schwer, einen Zusammenklang herzustellen.

Moore muss ein Stakkato aus kurzen Akkorden spielen, das an Maschinengewehrfeuer erinnert. Seine Hände sind dieser Aufgabe zweifellos gewachsen, aber er muss sehr auf die Lautstärke achten. Das Piano soll einen unruhigen Hintergrund für die vom Sänger vorgetragene Geschichte eine verängstigten Kindes schaffen, das der Vater zu beruhigen versucht und das dann plötzlich auf geheimnisvolle Weise stirbt. Moor darf nicht zu laut spielen, aber Fischer-Dieskau muss ihm, wenn das Kind spricht, auch helfen, indem er seine Stimme zurücknimmt, damit die verängstigende Wirkung des Maschinengewehrstakkatos zur Geltung kommt.

Wie schon so oft beim Vortrag des "Erlkönigs" zeigt sich Fischer-Dieskau auch diesmal der Aufgabe gewachsen. Während Sänger, die ihren Part gern in den Vordergrund stellen, die Möglichkeiten des Brustkorbs nutzen und die ängstlichen Schreie des Kindes sehr laut herausstoßen, produziert Fischer-Dieskau Kopftöne und hebt die Stimme bis hoch in die Kehle. Um die Wirkung des Pianostakkatos noch zu verstärken, nimmt sich der Sänger im mittleren Teil eine kleine Freiheit beim Text heraus. Er spricht mehr, als dass er sänge , und besonders abgehackt spricht er in einem Augenblick, als Moore sehr reiche Akkorde spielt, deren Klangwirkung leicht verloren gehen könnte. "Der Erlkönig" kommt an sein plötzliches, bestürzendes Ende, und das Publikum tobt.

Der Sänger hat die Bedürfnisse des Pianisten respektiert. Man könnte sagen, das Zusammenspiel gelingt dank der Persönlichkeit des Sängers, doch Fischer-Dieskau selbst sagt das nicht. In seinen Schriften spielt er die Bedeutung seiner persönlichen Gefühle herunter, teils aus Bescheidenheit, teils weil ihm der bei Sängern verbreitete Personenkult nicht liegt, vor allem aber weil für ihn beim Vortrag eines Stücks die Anforderungen der Musik im Vordergrund stehen. Die kleine Freiheit des Sprechgesangs resultiert daraus, dass Sänger und Pianist sie zu einem bestimmten Zeitpunkt benötigten, um die Dramatik der Musik zur Geltung zu bringen; sie ist keine willkürliche idiosynkratische Hinzufügung.

Fischer-Dieskau hat Moores Bedürfnisse ernst genommen, doch sein Hinweis auf "Schubert" dürfte als einzige Erklärung kaum ausreichen. Vielen Interpreten des "Erlkönigs" gerät das Zusammenspiel von Stimme und Klavier zu einem Durcheinander. Sein Talent? Diese Antwort führt in ein Dickicht, denn wir können ja nicht behaupten, nur außergewöhnlich talentierte Menschen seien in der Lage, einfühlsam auf andere einzugehen - auf der Bühne wie im normalen Leben.

Wenn allerdings Fischer-Dieskau auf Schubert statt auf sich selbst verweist, so ist das in einer Hinsicht dennoch aufschlussreich. Stellen wir uns vor, die Bereitschaft des Sängers, auf Moore zu achten und ihn nicht als Begleitung, sondern als Mitspieler zu behandeln, sei in der Tat eine Frage der Persönlichkeit, insbesondere seines Verhältnisses zu dem Menschen Gerald Moore. Dann wäre Freundschaft die notwendige Basis ihrer Arbeitsbeziehung, und umgekehrt müsste es dem Sänger schwer fallen, mit dem Fremden zusammenzuarbeiten. Den Komponisten können beide nicht persönlich gekannt haben - Schuberts physische Anwesenheit beschränkt sich auf die Tintenkleckse. Wenn der Sänger auf die Bedürfnisse der Finger des Pianisten eingehen, aber den Menschen Gerald Moore nicht unbedingt mögen muss, dann liegt das Talent beider Männer in ihrer Fähigkeit, die Tintenkleckse auf dem Papier in Gefühl zu verwandeln.

Ich mache so viel Wind um den Vortrag dieses Liedes, weil darin deutlich wird, was es heißt, die Bedürfnisse anderer ernst zu nehmen, innerhalb wie außerhalb der Konzerthalle.

 

Aus späteren Kapiteln:

..........

Ist "Ansehen" oder "Prestige" ein ausreichendes Synonym für "Respekt"? Nicht ganz. Der Arzt bei unserer Mentorenveranstaltung genoss ein sehr viel höheres berufliches Ansehen als die Sekretärin - seine Arbeit ist selbstbestimmt und gesellschaftlich nützlich - , doch der Sekretärin begegnete man mit größerem Respekt. Trotz seiner angesehenen Arbeit nahm der Arzt die spezifischen Bedürfnisse seiner Zuhörer nach Anleitung in einer wichtigen Lebensfrage nicht erst. Auch Fischer-Dieskaus Ansehen, das er ohne Zweifel verdient, ist von uns, den Zuhörern, konstruiert, und dieses Publikumskonstrukt bietet keine Erklärung für die Aufmerksamkeit, die er dem Pianisten zukommen ließ.

........

Der Sänger kann seinem Partner nicht einfach sagen, dass er ihn unterstützen will - er muss vor allem wissen, wie er das tun kann.

Außerdem orientiert sich handwerkliches Können an Standards und Idealen, die über den bloß zwischenmenschlichen Prozess hinausgehen. Für Fischer-Dieskau wie für die meisten Musiker ist die Zusammenarbeit mit seinem Pianisten ein Mittel zum Zweck, und dieser Zweck besteht darin, Schuberts Tintenkleckse angemessen in Musik umzusetzen. Selbstachtung entsteht aus der Erfahrung, diesem idealen Standard näher gekommen zu sein.

zurück zu "Der Autor"