Zur Oper am 2. Februar 1960 in Berlin


Tagesspiegel, Berlin, Datum unbekannt

Späte Wiederkehr einer einstigen Opern-Sensation

Alban Bergs "Wozzeck" – Erstaufführung in der Städtischen Oper

Alban Berg, der am Vorweihnachtstage des Jahres 1935, in einer Zeit, die seinem Schaffen die Resonanz mißgönnte, einen frühen, tragischen Tod starb, wäre am 9. Februar 1960 fünfundsiebzig Jahre alt geworden. Das Vierteljahrhundert, das seit seinem Tode verflossen ist, hat sein Lebenswerk auf geradezu enthusiastische Weise bestätigt. Sein Hauptwerk "Wozzeck", schon bei der Berliner Uraufführung von 1925 in seiner Bedeutung als repräsentatives Werk der Epoche erkannt, gehört heute unangezweifelt zum Weltrepertoire der Oper; das Spätwerk "Lulu" ist im Begriff, sich die ihm gemäße Stellung auf der Bühne zu erobern. Wenn die Städtische Oper den fünfundsiebzigsten Geburtstag des Komponisten mit einer Einstudierung des "Wozzeck", der ersten im Hause an der Kantstraße, feiert, so begleicht sie damit eine längst fällige Schuld gegen die musikalische Moderne.

Worauf beruht die Repräsentanz, die diese Komposition des Büchnerschen Dramenfragments durch den Musiker des Expressionismus gewonnen hat? Die Gründe der Wirkung sind vielfältiger Natur. Es ist einmal der Stoff der sozialen Tragödie, der schon von Gerhart Hauptmann vorgetragene Appell an das Mitleid mit den entrechteten, unterdrückten Stiefkindern der Gesellschaft, der in der Devise "Wir arme Leut’" mit leitmotivischer Prägnanz formuliert ist. Es ist daneben die aufwühlende, jede Erregung zur höchsten Intensität steigernde Tonsprache des Expressionismus, die Sprache des erhitzten, vulkanisch ausbrechenden Gefühls, die dem Hörer die Passion des armen Mannes so unausweichlich zum Erlebnis macht, wie ihn früher die Schrecken der mythischen Tragödie bedrängten.

Es ist aber vor allem – und damit erhebt sich Alban Bergs "Wozzeck" über die musikdramatische Produktion der Zeit – das seltene Ereignis der Vollendung, das hier Wirklichkeit wurde, das Zusammentreffen der Bedingungen und Kräfte, aus denen sich das Bedeutend-Vollkommene ergab. Nicht nur insofern, als ein dichterisch hochwertiges Fragment durch die Zutat de Musik gerundet und zu einer idealen Oper ergänzt wurde. Die Musik ihrerseits wuchs an der Aufgabe über ihre eigenen Möglichkeiten hinaus. Mit dem "Wozzeck" ist die aphoristische Krise der atonalen Musik endgültig überwunden; der lange Atem des Musizierens ist wiedergewonnen. Das technische Verfahren, dessen sich Alban Berg zur Festigung der musikalischen Materie bedient hat, die Einführung traditioneller Formen wie Suite, Passacaglia, Fuge, Symphonie, Invention, ist oft genug bewundert worden. Bewundernswerter ist, wie vollkommen dieses Formengerüst dem dramaturgischen Szenenbau entspricht, wie die Musik, aus eigener Kraft erstarkt, doch wieder ganz im Drama aufgeht. Die Harmonie von Drama und Musik, die wir in Mozarts "Figaro" bewundern: hier ist sie, unter ganz anderen Voraussetzungen und mit ganz anderen Mitteln wieder erreicht.

Der Eindruck der "Wozzeck"-Musik ist heute ein anderer als vor fünfunddreißig Jahren. Noch immer bleibt das emotionelle Erlebnis, die ungeheuere Spannung des Crescendos auf einem Ton, die erschütternde Ausdrucksgewalt der Trauermusik auf Wozzecks Tod. Aber immer deutlicher wird der Schönheitsreiz dieser höchst verfeinerten, mit erlesenen Mitteln arbeitenden Musik. Wieviel Kammermusik, wieviel klangliche Diskretion steckt in der Partitur, wieviel Naturklang von der trompetendurchklungenen Abendstimmung des zweiten Bildes bis zum schauernden Nachtwind und den Unkenrufen am Teich, wie farbig und suggestiv sind andererseits die Naturalismen der Wirshausszenen vom Gegröhle der Handwerksburschen bis zum verstimmten Klavier! Es ist die Fülle der künstlerischen Phantasie, die uns heute ebenso wie die humane Gewalt des Ausdrucks ergreift.

Es entspricht dem inneren Reichtum und der Vieldeutigkeit des Werkes, daß jede neue Aufführung ein neues Gesicht zeigt. Es wäre falsch, die Qualität der Aufführung der Städtischen Oper nur durch Dietrich Fischer-Dieskaus Verkörperung der Titelpartie bestimmt zu sehen. Wozzeck ist eine prototypische Figur der Opernbühne wie Don Giovanni und Hans Sachs, wie Doktor Faust und Mathis der Maler, und es zeugt von der Konsequenz von Dietrich Fischer-Dieskaus künstlerischer Entwicklung, daß er diese Figur in seinen Rollenbereich einbezieht. Sein Wozzeck ist ein ungefüger, dumpfer Riese, der hilflos wie ein Kind zwischen den Sphären triebhafter Selbstsicherheit und verknöcherter Eitelkeit steht; ein dem Urdunkel verhafteter Träumer und Geisterseher, dessen Bedrückungen unversehens und natürlich in Tat, in Mord und Selbstmord umschlagen. Er realisiert die musikalische Figur, nicht nur, weil er ihr Melos wirklich singt und noch den Sprechgesang melodisiert, sondern vor allem, weil er sie aus der Vordergründigkeit des sozialen Dramas heraushebt und ihre metaphysische Dimension sichtbar macht.

Darüber hinaus aber ist die Aufführung ein Ganzes. Der Dirigent ist, mehr als der Sänger, Sachwalter des Komponisten, der sich selbst das letzte Wort über seine Geschöpfe zu sagen vorbehält. Richard Kraus realisierte Klang und Kolorit der Musik, er widmete sich der plastischen Ausarbeitung des Details und steigerte die Leidenschaftlichkeit des Ausdrucks bis zum Konvulsivischen; es gehört zu den Unberechenbarkeiten künstlerischer Leistung, daß dieser von innen gestaltende Musiker der letzten Steigerung des Gefühls in der d-moll-Trauermusik einen Rest schuldig blieb. Die Inszenierung Wolf Völkers und das Bühnenbild Teo Ottos stimmten zu der naiv-eindringlichen Deutung der Musik: vor schiefwinklig-baufälligen Dekorationsfragmenten im dunklen, durch neblig-fleckige Projektionen belebten Raum standen die Figuren wie im Gefängnis ihrer Einsamkeit: daß die Farbe – bis hin zu den rhythmisch aufleuchtenden roten und grünen Lampen der Wirtshausszene – als Reizelement einbezogen war, entsprach dem theatralisch-wirkungshaften Stil der Inszenierung. Erregend lebendig, dem Wozzeck nicht nur an musikalischer Korrektheit ebenbürtig, die Marie Helga Pilarczyks, gezeichnet mit dem Fluch und der Versuchung der Schönheit, in der Lebensbegierde so wahr wie in der Zerknirschung. Mit virtuoser Buffotechnik gestaltet der gespreizt-sentimentale Hauptmann Martin Vantins, mit diskreten Mitteln ins Gespenstische gespielt der Doktor Karl Kohns, etwas zu lyrisch der Tambourmajor von Ludwig Suthaus, imposant in der lallenden Eloquenz der Trunkenheit der Handwerksbursche Peter Roth-Ehrangs. Eindrucksvoll in Nebenrollen Karl Ernst Mercker und Sabine Zimmer, Chor und Orchester auf der Höhe ihrer Leistungskraft. Ein bedeutender Abend der neuen Musik, dem der Bundespräsident in der Ehrenloge des ausverkauften Hauses beiwohnte.

Werner Oehlmann


Telegraf, Berlin, 4. Februar 1960

In der Enge des Lebens

Alban Bergs "Wozzeck" in der Städtischen Oper

"Der Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einen, wenn man hinunterschaut." Diese Erkenntnis bestürzt Wozzeck, die gehetzte, leidende Kreatur, als er spürt, daß er seiner selbst nicht mehr mächtig ist und unter dem Druck dämonischer Gewalten zum Mörder wird. Dieser Satz ist zugleich der Schlüssel für Alban Bergs Oper "Wozzeck", denn weniger als in dem Drama Büchners geht es ihm um eine Anklage gegen die Gesellschaft..

[...]

Die Städtische Oper hat das Werk Alban Bergs, das den klassischen Schöpfungen der neuen Musik zuzurechnen ist, in einer sehr gelungenen Inszenierung ihrem Repertoire eingefügt. Das Niveau der Aufführung garantierte nicht allein Fischer-Dieskau: Dirigent, Regisseur und Bühnenbildner sowie die beteiligten Sänger hatten ihren Anteil an dem Erfolg. Mit feinem Spürsinn faßte Wolf Völkers Regie das Realistische des Dramas und das, was Alban Bergs Vertonung an vertiefenden und verwandelnden Perspektiven hinzufügt. Die Bühnenbilder Teo Ottos, wirklichkeitsentsprechend und verzerrt zugleich, machten die äußere und innere Ebene des Werkes sichtbar. Vom Dirigentenpult erschloß Richard Kraus, mit sicherer Hand den Klang formend, die Eigenarten der differenzierten Partitur.

Eine grandiose Leistung hatte Dietrich Fischer-Dieskau in der Titelrolle zu bieten. Mit hinreißender Faszination durchdrang er die Gestalt des Soldaten, dem das Gehorchen, das Strammstehen den Willen gebrochen hat, der sich in das Los des Erniedrigten und Beleidigten schickt, der aber aus Verzweiflung zum Dolch greift, als ihm die Frau, die ihm einen letzten Bereich menschlichen Daseins ermöglicht hat, die Treue bricht. Höchst eindringlich verkörperte Helga Pilarczyk die zugleich sinnenfrohe und mütterliche Marie, die in der Enge ihres Lebens dem Abenteuer nicht ausweicht.

Auch die übrigen Mitwirkenden zeigten sich den Anforderungen der Musik so gewachsen, daß sie ganz in der sängerischen und darstellerischen Charakterisierung ihrer Partien aufgehen konnten. Scharf geprägte Zerrbilder des Menschlichen waren die Peiniger Wozzecks, der prahlerische Tambourmajor Ludwig Suthaus’, der selbstgefällige beschränkte Hauptmann Martin Vantins und der zynische Doktor Karl Kohns. Den Ansprüchen der kleineren Rollen genügten Sabine Zimmer, Karl Ernst Mercker, Theo Altmeyer, Peter Roth-Ehrang und Robert Koffmane.

Das Publikum zeigte sich von der Aufführung, die der Bundespräsident durch seinen Besuch auszeichnete, tief beeindruckt.

Karl Rehberg


Der Tag, Berlin, 4. Februar 1960     

"Wozzeck" – hinreißend gelungen

Zur Premiere von Alban Bergs Oper in der Kantstraße

[...]

Richard Kraus betreute Solisten, den von Ernst Senff zuverlässig einstudierten Chor und das sich gut bewährende Orchester achtsam und ließ die Dämonie der Musik großartig aufklingen. Wenn Berg, der Büchners fragmentarische Szenenfolge klug gestrafft hat, von dem schauenden Hörer fordert, daß er im Augenblicke, wo sich der Vorhang öffnet, von den Fugen, Inventionen, Suiten und Sonaten-Sätzen, von den Variationen und Passacaglien seines Werkes nicht mehr bemerken dürfe, sondern sich einzig und allein an die "weit über das Einzelschicksal Wozzecks hinausgehende Idee der Oper" halten müsse, so ist demgegenüber zu bemerken, daß dieser Hörer damals wie heute die Formgesetzlichkleit der Musik im besten Falle dunkel ahnen, nie aber klar erkennen wird.

Dietrich Fischer-Dieskau, für die Titelrolle eigentlich zu groß, da er den Tambourmajor, der doch als Mannprotz gedacht ist, um Haupteslänge überragt, brachte gleichwohl das Dumpfe, Verquälte, Spintisierende Wozzecks in Spiel und Gesang zu erschütternder Wirkung. Helga Pilarczyk, als Marie fast zu elegant für das "Weibsbild", das sie sein soll, wurde ihrer Rolle trotzdem mit leidenschaftlicher Eindringlichkeit gerecht. Mehr oder weniger Karikaturen, und als solche ausgezeichnet getroffen, geisterten um dieses tragisch endende Menschenpaar die übrigen Personen des Dramas herum: voran der eitel-brutale Tambourmajor (Ludwig Suthaus), der aufgeblasene Hauptmann (Martin Vantin), der offenbachisch-hoffmanneske Doktor (Karl Kohn), dann die beiden Handwrksburschen (der kraftvoll randalierende Peter Roth-Ehrang und Robert Koffmane), Wozzecks Kamerad Andres (Karl Ernst Mercker), der Narr (Theo Altmeyer), die freche Margret (Sabine Zimmer) sowie sonstiges Miltär und Zivil – sie alle in ein spannungsreiches, unheimlich bannendes Bühnengeschehen eingeordnet. Vielleicht wird sich die Tiefenwirkung des Ganzen noch steigern, wenn bei weiteren Aufführungen die Ausdrucksakzente für Auge und Ohr um einen Grad leiser gesetzt werden.

Die schauenden Hörer, unter ihnen Bundespräsident Lübke, spendeten schon nach dem zweiten Akt lebhaften Beifall und bereiteten den mitwirkenden Künstlern am Schluß stürmische Huldigungen.

Erwin Kroll


     unbekannte Presse     

"Wozzeck" mit Deutschlandlied

Bundespräsident Heinrich Lübke hatte überraschend den Besuch der Städtischen Oper zur Westberliner Erstaufführung von Alban Bergs "Wozzeck" in sein offizielles Berlin-Programm eingeschoben. Als Bundespräsident Lübke und Frau Wilhelmine die Mittelloge betraten, erhob sich das illustre Premierenpublikum und klatschte dem ersten Mann der Bundesrepublik freundlich zu – das Orchester intonierte das Deutschlandlied: Westberlin hatte, unerwartet fast, einen großen Tag. Der Erfolg der Aufführung ist vor allem Dietrich Fischer-Dieskau, dem Darsteller des Wozzeck, zu danken. Ein tumbes "Riesenbaby" mit rotblondem Bürstenschopf, kristallisierte er aus einer ganz und gar verhaltenen, geradezu steifen Spielweise und aus dem gewaltigen Stimmvolumen seines herrlichen Baritons die geknechtete Kreatur. Helga Pilarczyk, in Hamburg schon eine faszinierende Bergsche Lulu, bestach als Marie durch ihren makellosen dunklen Sopran. Beide Darsteller zeigt unser Bild. Der Bundespräsident ließ Frau Pilarczyk am Schluß – entgegen der Tradition des Hauses – einen riesigen Nelkenstrauß überreichen.


MELOS. Zeitschrift für Neue Musik (März 3 / 1960)



"Die Welt" 11.02.1960





"Die Welt" 4.2.1960


Werner Bollert


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