Zum Liederabend am 24. April 1961 in Düsseldorf

Düsseldorfer Nachrichten, 26. April 1961

Liedgesang am Scheidewege

Letztes Meisterkonzert mit Dietrich Fischer-Dieskau

Dietrich Fischer-Dieskau kann man ohne Übertreibung als den Erneuerer des Liedgesangs in unserer Zeit bezeichnen. Ihm ist es als fast einzigem gelungen, ungewöhnliche Programme, reine Wolf- und Brahms-Abende, Liedgruppen von Reger und ähnliches mehr, populär zu machen. Das Außerordentliche an der Liedgestaltung Fischer-Dieskaus, der mit Figuren wie Wozzeck, Mathis oder Falstaff auch auf der Bühne eine kaum überbietbare Potenz darstellt, ist das leidenschaftliche Durchmessen der Form, das Erloten des Dichterwortes nach seinem Sinngehalt und das Erfüllen der Kantilenen mit einer verzehrenden Spannkraft.

Doch Fischer-Dieskau ist inzwischen nicht mehr der, der er vor fünf, sechs Jahren war. Er hat sich mehr und mehr in eine virtuos bestimmte Deklamationsart gesteigert, mit der er sich so manchen Pfad zur verschwiegenen, intimen Wirkung des Liedes, einer Form, die wenig Aufwand will, verbaut. Sein Wolf-Mörike-Programm, das die Düsseldorfer jetzt zu hören bekamen, ist von der Zusammenstellung her ein Wagnis, da sich die Mörike-Lieder sehr viel schwerer als die Eichendorff-Gesänge kontrastreich kombinieren lassen.

Der Eindruck dieses Abends blieb bei aller Hochachtung vor dem Interpreten zwiespältig, nicht wegen des Programms, sondern wegen der extremen Darstellungsart Fischer-Dieskaus. Wie er "An den Schlaf", "Um Mitternacht", "An die Geliebte" anstimmt, ausschwingen läßt und jedem Wort seine Bedeutung abringt, das gehört zu den außerordentlichen Vorzügen seiner großen Darstellungskunst. Aber im Gegensatz zu diesen sublimen künstlerischen Eigenschaften, die Fischer-Dieskau früher in noch viel verschwenderischerer Fülle seinem Publikum bescherte, tritt auf der anderen Seite das Übertriebene, Überspitzte, das uns stutzig macht. Besonders im "Abschied" und in einigen Partien der "Storchenbotschaft" und des "Feuerreiters" hebt er betont den rezitativischen Effekt hervor. Fischer-Dieskau hat sein herrliches Stimm-Instrument so in der Gewalt, daß er a l l e s mit ihm machen kann. Er läßt die Stimme rascheln, knistern, drohen, schimpfen, meckern, grinsen – nur singen läßt er sie in solchen Augenblicken kaum noch.

Wundervoll die tiefschürfende Liedbegleitung von Gerald Moore. Die haarigen "Feuerreiter"-Kapriolen schüttelt er aus dem Handgelenk, als wenn sie ein Kinderspiel wären. Jeden Pianisten befällt da der blasse Neid. – Stürmischer Applaus in der nicht ausverkauften Rheinhalle.

K.


Rheinische Post, 26. April 1961     

  

Dramatischer Liedgesang

Fischer-Dieskau sang Wolfs "Mörike-Lieder"

   

Daß Dietrich Fischer-Dieskau neben etwa Peter Pears oder Gérard Souzay den zyklischen Liederabend für unsere Tage als Ereignis wiedererweckte, ist ein ebenso geistiges wie künstlerisches, wie bereits historisch zu wertendes Verdienst. Daß die drei genannten Sänger (sie seien nur repräsentierend auch für einige andere genannt) auch weltberühmte Oratoriensänger sind, liegt nahe. Erstaunlicher und ungewöhnlicher ist, daß sowohl Pears wie Fischer-Dieskau auch Berühmtheiten auf der Opernbühne sind, nicht zuletzt auch als großartige Darsteller.

Dieses erregende Szenische teilt sich – trotz aller Verhaltenheit und genauestem Wissen um die stille Gattung "Lied" – dem geistdurchglühten Liedgesang von Fischer-Dieskau immer spürbarer mit. Nicht, daß er das Lied (seine Repertoire-Spannweite reicht über Jahrhunderte) dramatisierte, aber es gibt jetzt immer mehr innere "Gebärde" beim Gesang dieser herrlichen Baritonstimme. Manchmal wähnt man, daß seine musikalische Erregung nur gewaltsam sich nicht auch in äußerer Geste spiegelt.

Hugo Wolf, dessen "Mörike-Lieder" Fischer-Dieskau jetzt im 12. Meisterkonzert sang, ist für das erwähnte Liedgesangstadium ein idealer Grenzfall. Diese "angewagnerten" kleinen lyrischen Lieddramen hält dieses Sängers Vortrag in erstaunlicher Verhaltenheit. Mörike ist bei ihm gesungen, aber auch Hugo Wolf, der immer neu ins Arios-Dramatische ausschlägt. Beispielgebende Sprache, die man sogar in der – fast ausverkauften – liedfremden Rheinhalle selbst im Flüstern noch erstaunlich gut verstehen konnte, schwang in den Saiten dieser nunmehr auf ihrem Höhepunkt angelangten begnadeten Stimme. Im Forte der hohen Spitzentöne, die natürlich meisterlich "sitzen" und organisch aus der weiten Stimmskala wachsen, sollte sich der Sänger in solch tückischem Raum vor der Forcierung schützen.

Diesem Meistergesang ebenbürtig ist die Begleitung von Gerald Moore. Nicht nur, weil er weiß und realisiert, daß das Klavier bei diesen Liedern oft der Hauptakteur ist, sondern weil er in einer, beinahe Britten vergleichbaren Weise bei ungewöhnlicher technischer Brillanz "nachzukomponieren" versteht. Noch ist in Erinnerung, wie dieses Duo in Londons überfüllter Royal Festival Hall "Die Winterreise" bei bis zum Schluß atemlosem Schweigen des Publikums zum Ereignis werden ließ. Mit Recht ließ der große Sänger seinen großen Partner am Flügel betont herzlich am Dank für den, wie gewohnt, überreichen Beifall teilnehmen.

P. M.

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