Zum Liederabend am 16. Oktober 1961 in Hannover

Hannoversche Allgemeine, 18. Oktober 1961

Im Reiche Robert Schumanns

Dietrich Fischer-Dieskau im Theater am Aegi

Dietrich Fischer-Dieskau, der mit einem Schumann-Liederabend im ausverkauften Theater am Aegi den hannoverschen Konzert-Zyklus Pro Musica eröffnete, ist nicht nur ein idealer Liedinterpret, sondern auch ein idealer Programmgestalter. Er liebt es, seine Abende unter den Gesichtspunkt eines einzigen Komponisten zu stellen. Trotz seiner außerordentlichen Belastung in der Oper nimmt er sich die Zeit und Ruhe, immer wieder neue Schubert-, Brahms- und Hugo-Wolf-Programme zusammenzustellen. Diese Komponisten bieten in ihren Liedern so starke Kontraste und Fischer-Dieskau ist ein so vielseitiger Gestalter, daß auch ein nur einem Komponisten gewidmeter Liederabend Erlebnisse, Anregungen und Überraschungen der mannigfaltigsten Art bietet.

Begegnete man nicht seinem Schumann-Abend mit besonderen Erwartungen? Denn, wenn auch die Liederkreise Robert Schumanns – Fischer-Dieskau wählte die Vertonung der 12 Gedichte Kerners und die 12 Gesänge nach Eichendorff – die lyrische Kleinform und Stimmung auf einer und der gleichen Ebene selten verlassen und wenn also hier im Laufe eines ganzen Abends die Gefahr einer gewissen Gleichförmigkeit hätte aufkommen können, so war es doch wieder ein unvergeßliches Erlebnis, dem Künstler in dieses schöne, stille Reich musikalischer Romantik zu folgen.

Es erübrigt sich, im Programm die Texte mitzulesen, weil Fischer-Dieskau Text und Musik so selbstverständlich, so vollendet zu durchdringen versteht, daß kein Wort verlorengeht. Feinste poetische Aussprache und ein wunderbares Eindringungsvermögen in den rein musikalischen Geist der Gesänge allein können aber, um mit Schumann zu reden, "nicht alles wirken, nicht alles wiedergeben". Der Klavierpart muß zur subtilen musikalischen Ausdeutung bei Schumann ungemein viel beisteuern, mehr als etwa bei Schubert.

Günter Weißenborn verwendete auf die Herauskristallisierung des Klavierparts eine Sorgfalt, einen dynamischen Feinschliff der Anschlagskultur, daß sich die gestalterische Kraft und Leidenschaft der Singstimme ganz zu verinnerlichen und zu verfeinern vermochte. Sowohl in den Kerner- wie in den Eichendorff-Gesängen bedeutet die Wiedergabe eine stille Einkehr in Natur-, Menschen- und Liebesbilder, die sich oft nur in einem traumhaften Dahinschweben des Melos ausdrückt. Wie Fischer-Dieskau gerade diese visionären Momente der Stücke mit seiner begnadeten Stimme auszukosten verstand, wie er der zyklischen Einheit nachspürte, wie er – um nur ein Beispiel in den Kerner-Liedern zu nennen – in "Stirb, Lieb und Freud" seine Belkanto-Kunst (herrlich sein Kopfregister!) geradezu oratorisch in das instrumentale Gewebe der kirchlichen Stimmung einordnete, und wie er danach den wanderfrohen Aufschwung mit dem "Wohlauf noch getrunken" funkelnd und überfließend folgen ließ, solche Momente stellen Höhepunkte der Liedgestaltung in unserer Zeit dar und man wird sie nicht vergessen können. Das Publikum zeigte dem Künstler durch begeisterten Beifall, wie dankbar es ihm für die knapp zwei Stunden im Reiche Schumanns war.

E. Lt.

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