Zum Liederabend am 20. Oktober 1961 in Bremen

Weserkurier, Bremen, 23. Oktober 1961

"Winterreise" voller Schwermut

Fischer-Dieskau sang beim ersten Meisterkonzert Schuberts Liederzyklus

Ein Liederabend von Dietrich Fischer-Dieskau wird stets zum besonderen Ereignis. Der zu frühem Ruhm gelangte, auf der Opernbühne in gleicher Weise wie im Konzertsaal von unwahrscheinlichen Erfolgen begleitete Sänger hat es sich nicht leicht gemacht. Gerade im Bereich der intimen Liedkunst ist die selten gewordene stilistische Geschlossenheit seiner Programmentwürfe zu loben, die hauptsächlich durch die Konzentration auf die Werke eines einzigen Komponisten bedingt ist. Insofern waren seine Beethoven-, Schubert-, Schumann-, Brahms- und Hugo-Wolf-Abende in Bremen unvergeßliche Erlebnisse. Sie sind untrennbar verbunden mit den von Werner Lutz vor zehn Jahren gegründeten Meisterkonzerten der Direktion Praeger & Meier, die zu den Höhepunkten des Bremer Musiklebens zählen. Es mag deshalb als gutes Vorzeichen gelten, daß ein faszinierender Künstler wie Dietrich Fischer-Dieskau auch im Jubiläumsjahr hier wieder erschien und den verheißungsvollen Auftakt gab für jene repräsentativen Veranstaltungen: diesmal mit einem ganz und gar auf verinnerlichte Stimmung gerichteten schwermütigen Liederzyklus von Franz Schubert.

Die "Winterreise" ist eines der ergreifendsten Dokumente, das wir von ihm besitzen. "Einen Kranz schauerlicher Lieder" nannte sie ihr Schöpfer, als er jene 24 Vertonungen nach Gedichten von Wilhelm Müller seinen vertrauten Freunden vorspielte. Diese waren verblüfft über die zutiefst melancholischen Gesänge eines Einsamen, den die nahen Todesschatten zeichneten. Verständnislos standen auch zunächst die kritischen Fachleute dem Werk gegenüber, dessen größtenteils monotone Mollstimmung ihnen mißfiel. Es hat lange gedauert, bis der musikalischen Welt das Wunder jener genialen Liederfolge offenbar wurde. Heutzutage gibt es nur wenige Sänger, welche die "Winterreise" in vollendeter Weise beherrschen. Zu ihnen gehört Dietrich Fischer-Dieskau.

Zwar deckt sich seine Gestaltung nicht mit jener Darstellung, die Schubert selbst vorgeschwebt hat. Aus Berichten von Leopold von Sonnleithner wissen wir, daß Schubert niemals einen heftigen Ausdruck im Vortrag gestattete. Er war der Meinung, daß Dichter, Tonsetzer und Sänger das Lied lyrisch, nicht dramatisch auffassen müßten. Wenn sich aber der Vortragende von der Person, die er schildert, und von deren Gefühlen als nüchterner "Erzähler" distanziert, verzichtet er auf wesentliche kontrastreiche Elemente. Würden wir mit einer solchen Interpretation heute zufrieden sein? Wohl schwerlich. Eine "objektive" Darstellung der "Winterreise" ließe zweifelsohne künstlerisches Ebenmaß erkennen, könnte aber unter Umständen tödliche Langeweile erzeugen.

Deshalb vermag Fischer-Dieskaus Gestaltung, dank der einzigartigen Modulationsfähigkeit seines herrlichen Baritons, zutiefst zu rühren. Er erschöpft alle Stimmungen, von zartester Verhaltenheit ("Der Lindenbaum" und "Frühlingstraum") bis zum leidenschaftlichen, verzweifelten Ausbruch ("Auf dem Flusse" – "Der stürmische Morgen"). Die Identifikation mit dem jungen, unglücklichen Menschen, der in den Winter hinauszieht und vergeht, ist vollkommen. Und die letzten Stationen eines verirrten und erlöschenden Lebens ("Der Wegweiser" und "Der Leiermann") formt der Sänger zu bedrängenden Visionen unentrinnbarer Hoffnungslosigkeit. In Günther Weißenborn hat er, wie früher schon, den plastisch empfindenden und pianistisch einfühlsamen Nachdichter zur Seite.

Die andächtig lauschenden Hörer im großen, vollbesetzten Glockensaal befolgten die im Programmheft vermerkte Bitte, den geschlossenen Liederzyklus nicht durch Zwischenbeifall zu unterbrechen. Es wäre bei dieser Gelegenheit noch zu empfehlen, nach sonstigem Brauch die zu grelle Beleuchtung während des Konzertes zu dämpfen. Die Lektüre der Gedichte hätte sich auch für diejenigen erübrigt, die vielleicht die "Winterreise" zum ersten Male vernahmen. Sie konnten nämlich bei Dietrich Fischer-Dieskau jedes Wort verstehen. Das unentwegte Rascheln und Umblättern der Seiten, zudem das ständige Husten einiger undisziplinierter Besucher, waren Beigaben, welche die geistige Spannkraft der gefeierten Künstler empfindlich störten.

Dr. Ludwig Roselius

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