Zum Liederabend am 18. März 1963 in Nürnberg

Nürnberger Nachrichten, 20. März 1963

Ein herrlicher Abend vokaler Kammerkunst fand begeisterte Hörer

Das romantische Lied lebt

Der Schubertsänger Dietrich Fischer-Dieskau im Sonderkonzert des Privatmusikvereins

Die Todeserklärung des romantischen Kunstliedes liegt noch gar nicht so lange zurück. Das reale Lebensgefühl des technischen Jahrhunderts, hieß es allenthalben, bietet keinen Raum für träumerische Poesien.

In der erstaunlichsten Weise hat sich das neuerdings geändert. Grund dafür mag zum Teil das Unbehagen sein, das die Früchte der "Neuen Sachlichkeit" in manchem Betracht heute schon auszulösen beginnen. Hauptsächlich aber welkte die "Blaue Wunderblume" der deutschen Liedromantik, weil sie in den Konzertsälen der verstandeskühlen Atmosphäre moderner Vortrags- und Gestaltungsperfektion ausgesetzt wurde. Weil den Interpreten der Glaube an die Kraft des Zarten, an die Wirkung des Intimen, des Unsensationellen, des künstlerisch Unschuldigen verloren gegangen war.

Die Pflege des Kunstliedes

Diesen Glauben den Zeitströmungen zum Trotz wieder aufgerichtet zu haben, ist die außerordentliche Leistung des Liedsängers Fischer-Dieskau. Der Schubert-Abend, zu dem ihn (und Günther Weißenborn, den seiner Kunst verschworenen Klavierpartner) der Privatmusikverein für eines seiner Sonderkonzerte eingeladen hatte, war nicht nur ein musikalisches, sondern auch ein gesellschaftliches Ereignis. Er wurde zu einer triumphalen Bestätigung dafür, daß der Nürnberger Privatmusikverein recht hatte, wenn er in zähem Widerstand gegen manch massiven Protest unentwegt die Pflege des Kunstliedes zu seinen Aufgaben zählte. Seit Wochen waren die Eintrittskarten für diesen Abend vergriffen. Die Bravo-Rufe des enthusiastischen Publikums erinnerten an die Begeisterungsgeräusche der Neubayreuther Festspiele. Noch gut dreißig Minuten nach dem Schluß des offiziellen Programms applaudierten die standhaften Schubertfreunde, obwohl sich der Sänger mit dem Lied "Ade, du munt’re, du fröhliche Stadt" sinnig und unmißverständlich verabschiedet hatte.

Es wäre falsch, wollte man annehmen, daß sich Fischer-Dieskau die Strapazen des heute nun einmal unvermeidlichen Virtuosentrainings hätte ersparen können. Er hat – selbstverständlich – seinen herrlich edlen Bariton den strengen Exerzitien technischen Drills unterworfen. Er legt – selbstverständlich – den Ablauf seiner Gestaltung mit minutiös arbeitendem Kunstverstand in jeder Nuance fest. Aber er ist in den Attraktionen des Startums nicht stecken geblieben. Er ist durch den äußeren Glanz der interpretatorischen Bravour zu dem vorgestoßen, was Anfang und Ende romantischer Liedformung bedeutet: zur schlichten und unverkünstelten menschlichen Aussage, zur schlackenlosen Darstellung des künstlerischen Gesetzes.

Das ist sein Geheimnis!

Weil er ein Souverän in seinem Reich ist, kann er auf die Winkelzüge des populären Effektes in der extremsten Weise verzichten. Er bot eine chronologisch geordnete Liederfolge, die mit Schuberts berühmten "Opus 1", dem "Erlkönig", begann, um einige sehr bekannte, einige weniger bekannte, in der Hauptsache aber derzeit höchst unbekannte Gesänge folgen zu lassen. Bezeichnend, daß er die umfängliche Gruppe seiner (Schubert-)Zugaben mit den "Nachtviolen" einleitete – jenem Lied, das (Alfred) Einstein als Beleg dafür anführte, mit welcher Stumpfheit sich das Interesse der Nachwelt auf ein paar immer wieder gesungene Schubertlieder beschränkt. Wie wunderbar Fischer-Dieskau auch die leiseste Andeutung einer selbstgefälligen Sängergeste ausschaltete, wie er rigoros die Einheit des Liedes über die Gestaltungsraffinesse stellte, wie er die Grundform wandelte ohne die wesenhafte Linie der einzelnen Gesänge preiszugeben – das eben ist das Geheimnis, mit dem er auch die in den Bann der romantischen Kunst zwingt, die sich auf der Höhe ihrer unromantischen Zeit wähnen.

Karl Foesel

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