Zum Liederabend am 26. März 1963 in Heidelberg

Heidelberger Tageblatt, 28. März 1963

Welch begnadete Stimme!

Dietrich Fischer-Dieskau sang im sechsten Heidelberger Meisterkonzert

Heidelbergs Konzertpublikum darf sich glücklich schätzen: nicht jeder Musikstadt wird der Vorzug zuteil, Deutschlands besten und in aller Welt berühmten Sänger, Dietrich Fischer-Dieskau, regelmäßig in jeder Konzertsaison erleben zu dürfen. Nach dem unvergeßlichen Hugo Wolf-Abend und den beiden Schubert und Schumann gewidmeten Zyklen erlebten ungezählte Hörer am Dienstagabend wiederum einen Schubert-Abend von höchster künstlerischer Meisterschaft.

Das Wort "Erlebnis" wird bei der Betrachtung von Fischer-Dieskaus Liedinterpretation stets im Mittelpunkt stehen. Es ist kaum möglich, all die Feinheiten seiner künstlerischen Aussagekraft zu beschreiben, man muß sie erleben. Sprachen wir das letzte mal beim Schubert-Schumann-Liederabend Fischer-Dieskaus von Natur und Kunst, Geist und Fleiß, die sich im Wesen dieses einmaligen Künstlers zu schönster und höchster Vollendung vereinen, so bewunderten wir diesmal vor allem die herrliche, gottbegnadete Stimme des Sängers. Es gibt keine Nuance, zu der sie nicht fähig wäre. Ihre Skala reicht vom dramatisch erregten, ungemein fesselnden Ausdruck bis zur letzten Feinheit eines inhaltsreichen Pianoklangs. Dabei gestaltet Fischer-Dieskau für den Hörer alles leicht und mühelos. Gerade darin liegt sein großes Können. Niemals empfindet man bei ihm irgendeine Anstrengung. Diese nach außen hin unbeschwerte, dafür innerlich um so konzentriertere Hingabe an das Kunstwerk hat etwas unvorstellbar Bezwingendes.

Die große einheitliche Linie in der Programmgestaltung Fischer-Dieskaus ist bekannt, und wir lieben den Künstler auch gerade deshalb, denn hier offenbart sich der wirkliche Musiker von hohem Geist. (Kürzlich erschienen zwei neue Schallplattenaufnahmen, die diese geistige Einheit in der Liedfolge erneut bestätigen: Schubert-Lieder im "Spiegel der Antike" und "Ein Schubert-Goethe-Liederabend".) An diesem Abend waren die Schubertgesänge chronologisch nach ihrer Entstehungszeit geordnet: der Zyklus begann mit der berühmten Erlkönig-Ballade von 1815, vom Komponisten als Opus 1 veröffentlicht, führte über den "Wanderer", die "Gruppe aus dem Tartarus", "An die Freunde" und den "Musensohn" bis zum "Ständchen" und den "Sternen" – ins Todesjahr 1828. Die geistige Einheit war dabei weniger durch die verschiedenen Textdichter (Goethe, Schiller, Mayrhofer, Rückert, Lappe u.a.) vorgezeichnet, sondern in den inhaltlich ineinander verknüpften Themen zu finden: Leid und Freude des einsamen Menschen, Erlösung des Menschen vom trauervollen irdischen Dasein durch die Aufnahme in das stille und friedvolle göttliche Jenseits, Verklärung des Menschen durch die überirdische Macht der Liebe, "Glaube, Liebe, Hoffnung" ...

Günther Weißenborn, der Fischer-Dieskau am Flügel begleitete, bewies ebenfalls glanzvolles meisterliches Können. Wer einmal das geistvolle Buch Gerald Moores, "Freimütige Bekenntnisse eines Begleiters", zur Hand genommen hat – Fischer-Dieskau hat die deutsche Ausgabe mit einem Geleitwort versehen, in dem er von dem Liedbegleiter als dem Gleichwertigen neben seinem Partner spricht – wird erst recht ermessen können, welche Meisterschaft der begleitende Partner besitzen muß, um zum Gelingen des Abends beizutragen. Weißenborn gehört zu diesen großen Musikern, die durch ihr souveränes Gestaltungsvermögen und ihre ungemein flexible Anpassungsfähigkeit höchste Ansprüche zu erfüllen vermögen.

Natürlich gibt es auch diesmal wieder ein halbes Dutzend Zugaben. Selbst das entzückende Abschiedslied "Ade, du munt’re, du fröhliche Stadt" reicht noch nicht aus, um die unvorstellbare Begeisterung des Publikums zu stillen. Konnte man sich einen schöneren Abschluß denken als das Bekenntnis zur "Holden Kunst", mit dem Dietrich Fischer-Dieskau zugleich ein wundervolles Selbstbekenntnis seiner hohen Künstlerpersönlichkeit zum Ausdruck brachte?

Schon heute freuen wir uns auf seinen für April 1964 angekündigten nächsten Liederabend in Heidelberg.

Günther vom Hagen

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