Zum Konzert am 26. April 1963 in Köln

Die Welt, 7. Mai 1963

Lob des Unvergänglichen

Hans Werner Henzes Werk "Novae de infinito laudes" aufgeführt

Wenn das Tagesgestirn über den Horizont steigt, wenn das Nachtgeziefer in Höhlen Unterschlupf sucht, dann hebt unter den Kreaturen, die nach Sonne drängen, ein Gewimmel an. Urgrundtiefen, raumlos, zeitlos, in Kontrabaß-Instrumentarium bezeichnen die "Vorstellung des Chaos", Tremoloblitze rufen die erste Erwartung "Es werde Licht" wach. Wer denkt da nicht an Vater Haydns Schöpfungsgeschichte für annähernd die gleiche Besetzung, Soli, sehr großen Chor und großes Orchester.

Nur daß wir dann eben bei dem Wiener Klassiker einen Spazierweg durch einen geordneten Freiluftzoo mitmachen, jetzt dagegen von Hans Werner Henze in ein Monumentalgemälde hineinversetzt werden, darin zu Tausende Schreie schwirren, Herdenrufe dröhnen, Schwingen flattern, Riesenscharen aller Lebewesen von der Zikade bis zum Tigertier und Götterroß wie Wolken und Hurrikanfronten gegeneinanderstreben, übrigens so, daß sich aus tausend eben noch erkennbaren Tonmalereien ein nahezu wieder abstraktes Tonbild von mächtigen Dimensionen der Phantasie ergibt.

Hiermit hat Henze in seiner Eigenschaft als nachgeborener Barockromantiker eine neue Höhe erklommen. Seine Kantate "Novae de infinito laudes", Neue Lobgesänge auf das Unendliche, ist es entschieden wert gewesen, daß der Westdeutsche Rundfunk ihretwegen folgendes Ensemble bereitstellte: Dietrich Fischer-Dieskau, Peter Pears, Kerstin Meyer, Elisabeth Söderström als Solosänger, Herbert Schernus’ Kölner Rundfunkchor, das Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester – kurzum, die glorreichste Besetzung vielleicht, die in diesen Jahren auf einem Konzertpodium zusammengeführt worden ist.

Henze selbst, mittlerweile ein perfekter Dirigent neuer Partituren, hat sein 55-Minuten-Opus im Teatro Fenice von Venedig zur XXVI. Biennale zeitgenössischer Musik unter starkem Achtungsbeifall uraufgeführt und es zwei Tage danach mit gleicher Besetzung im Kölner Sendesaal unter Ovationen (und momentanem sehr leisem Buh) zur deutschen Erstaufführung gebracht.

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Heinrich von Lüttwitz

   

     Kölner Stadtanzeiger, 1./2. Mai 1963     

   

Henzes Kölner Triumph

5. Konzert "musik der zeit" im Westdeutschen Rundfunk

   

Nun hat auch Hans Werner Henze seinen feierlichen Einzug in den Westdeutschen Rundfunk gehalten – im Rahmen der Konzertreihe "musik der zeit", in der er Werke eigener Komposition dirigierte. Die Begegnung war für Köln eigentlich schon lange fällig; schließlich bildet Henze im modernen Musikleben den angefeindeten, wenn auch im stillen keineswegs zu verachtenden Kontrapunkt zum Dreigestirn Stockhausen-Nono-Boulez.

Henze selbst hatte vor der Begegnung mit Köln immer einigen Respekt. Seine Ausnahmestellung als Komponist unserer Tage wird nicht erträglicher, wenn er sich in der – wie er selbst fälschlicherweise meint – Hochburg moderner Musikbewegung direktem Beschuß aussetzt.

Henze kann jedoch mit seinem Aufenthalt zufrieden sein. Es gab keine Demonstrationen – weder nach der einen noch nach der anderen Seite hin. Zwei oder drei Leutchen ausgenommen, die den großen Funksaal für einen Kuhstall, sich selbst für Hornvieh hielten und brummten. Das andere waren herzlich gemeinte Ovationen, für die "Novae de infinito laudes" mehr noch als für "Antifone".

Sein Werk "Antifone" ist eines jener durchkalkulierten Stücke, wie sie die Moderne in so großer Zahl hervorgebracht hat, und auch der Titel (Antiphon) bezeugt die technische Faktur. Im Mittelpunkt der Musik steht ein elfköpfiges, solistisches Streicherensemble, um das sich in Vierergruppen zusammengebaute verschiedenartige Instrumentalfamilien herumlegen. Die Musik wird aus Kontrastformen entwickelt, die sich aus einem antiphonischen Gegeneinanderspielen der verschiedenartigen Klanggruppen ergeben. Das Verfahren ist nicht neu.

Stärker ist da schon die Chorkantate "Novae de infinito laudes" nach Giordano Bruno, monumentalisierte Weltanschauungsmusik mit der für unsere Zeit so charakteristischen religiösen Spitze. Panteistische Tendenzliteratur, von der man kaum glauben möchte, daß sie sich überhaupt vertonen ließe, in einer Interpretation, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt und sich am farbigen Bilderspiel berauscht. Als Musik wirkt es wie ein Mosaik der letzten fünfzig Jahre, ist verdinglichter als Nonos Chormusik, von blendender Ausstrahlungskraft und als Dreiviertelstundenwerk eine Kombination dankbarer Partien, die ihre Wirkung niemals verfehlen können.

Der Rundfunk hatte dazu ein Quartett gesanglicher Koryphäen zusammengestellt, wie man es in dieser Form auch nur selten zu hören bekommen wird: Elisabeth Söderström (Sopran), Kerstin Meyer (Alt), Peter Pears (Tenor), Dietrich Fischer-Dieskau (Bariton); außerdem der Kölner Rundfunk-Chor (in der Einstudierung von Herbert Schernus), der nur wenige Tage zuvor in Italien bei der Uraufführung des Werks mitgewirkt und damit reichliches Lob geerntet hatte. In der Tat mußte man der Aufführung, die Henze sehr sicher, exakt und doch nachgiebig leitete, ein sehr hohes Niveau zuerkennen, so schwierig solche Feststellungen bei unbekannter Musik auch sonst immer sein mögen.

-ky-

   

     Kölner Rundschau, 30. April 1963     

   

Der serielle Romantiker

Erfolg für Henzes Bruno-Kantate in Köln

   

Hans Werner Henze, der wohl am meisten geschätzte deutsche Komponist der jüngeren Generation, konnte zwei Tage nach der Uraufführung in Venedig die begeisterte Aufnahme seiner Kantate "Novae de infinito laudes" in Köln noch einmal erleben. Mit diesen "Neuen Lobgesängen über die Unendlichkeit" nach Texten von Giordano Bruno kommt Henze seinem Publikum entgegen. Denn ohne die Errungenschaften der neuen Musik, ohne die serielle Vergangenheit zu verleugnen, wurzelt Henze tief in der Romantik.

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So viel Schönklang, Kantilene und Wohllaut mutet im Jahr 1963 befremdlich an. In einer eigentümlichen Konsequenz klammerten sich die Hörer jedoch gerade an diese Barriere, die, über zerlegten Dreiklängen und diatonischen Melodien den Zustand einer freien Tonalität skizzierend, deutlich den Weg in eine geordnetere Vergangenheit weist. [...]

Wie in der Kantate, so dominierten auch in dem Orchesterstück "Antifone" die lyrischen Elemente. Unter Verzicht auf rhythmische Spannungen und emotionellen Schwung bezog diese Musik ihre wesentlichen Wirkungsmomente aus den Klangfarben. Wie schon in anderen Werken, gab Henze seiner Vorliebe für den weichen, gerundeten Klang nicht zuletzt durch die unkonventionelle Verwendung einer Blockflöte Ausdruck. Jedoch mutete dieses 1960 entstandene Werk weitaus moderner an und vor allem auch konsequenter im Vollzug der kompositorischen Idee als die berauscht ausschweifende Kantate.

Der Abend im großen Sendesaal des Kölner Funkhauses war gleichwohl ein eindeutiger, durch ein paar Buh-Rufe kaum gestörter Erfolg. Nicht nur für den dirigierenden Komponisten, der von den Musikern des Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchesters durch ein expressives, klanglich bemerkenswert gepflegtes Spiel unterstützt wurde. Vielmehr hatten vor allem die Vokalisten großen Anteil an der Sympathie des Publikums: das hervorragende Solistenquartett mit Elisabeth Söderström, Kerstin Meyer, Peter Pears und Dietrich Fischer-Dieskau sowie der von Herbert Schernus bis ins nuancierte Detail durchgebildete Kölner Rundfunkchor.

M. R.

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