Zum Liederabend am 19. Mai 1963 in Zürich

    

     Züricher Tagesanzeiger, 25. Mai 1963     

    

Der perfekte Schubert-Sänger

     

Dietrich Fischer-Dieskau, der durch sein seltsames Verhalten dem Schweizerischen Roten Kreuz gegenüber bei vielen seiner Bewunderern einen peinlichen Eindruck hinterließ, hat nun zum Abschluß des von der Konzertgesellschaft veranstalteten >>Meisterzyklus<< in der Tonhalle mit einem ausschließlich Schubert gewidmeten Liederabend triumphiert. Als Konzert- und Plattensänger ungemein beliebt, hat er so ziemlich alles um sich versammelt, was sich für Gesangskultur und schöne Stimmen interessiert, und er mußte froh sein, auf dem übervölkerten Podium für seine Darbietungen noch Platz zu finden. Das attraktive Konzert, von Hörern aller Kenntnisgrade mit Begeisterung verfolgt, wurde zum Erlebnis, wenn man einen Abend ununterbrochenen, schwelgerischen Genießens in künstlerischen Kundgebungen von hoher Geistigkeit so nennen darf.

Fischer-Dieskau singt seine Schubert-Lieder mit sozusagen selbstverständlicher Bescheidenheit, das heißt ohne dem Lyrischen durch forcierte Tongebung oder dramatische Akzente nachhelfen zu wollen. Sein naturschöner, zuweilen in die Tenorregion hinaufreichender Bariton hat jenen Edelklang, der sowohl als Naturgeschenk wie als Resultat fachgemäßer Ausbildung und strenger Selbstdisziplin zu betrachten ist und der dem beglückten Hörer Gewähr bietet, daß das Gesungene auch wirklich durchdacht und empfunden ist. Reinen Sinnengenuß bringt diese kerngesunde Stimme mit dem schwebenden Piano, dem sordinierten Pianissimo und dem im Forte so kraftvoll gestrafften und dennoch runden, weichen Tönen.

Das Programm, chronologisch angeordnet, populäre und seltenere Lieder umfassend, erstreckte sich vom "Erlkönig" bis zu den blitzenden "Sternen", worauf dann noch fünf Zugaben folgten. Aus dem Verborgenen hervorgeholt hat der Sänger, der sich auch mit dem unbekannteren Schubert verbunden fühlt, drei auf Gedichte von Johann Mayrhofer komponierte, in Nacht- und Grabespoesie schwelgende Gesänge: "Memnon", "An die Freunde" ("Im Wald. im Wald, da grabt mich ein") und "Freiwilliges Versinken". Ergreifend gestaltete er den "Wanderer", die "Gruppe aus dem Tartarus" und das zweite der "Heliopolis"-Lieder. Das behagliche Gefühl des "Einsamen" fand köstlichen Ausdruck im Zirpen der "schwirrenden Grillen"; und neue Belebung erfuhr das von Jugendkraft geschwellte, von zärtlichem Verlangen durchpulste Reiterlied "Auf der Bruck". Daß Fischer-Dieskau mit der Hymne "An die Leier", mit dem "Musensohn", dem "Abendrot" und dem stillen Bekenntnis "Du bist die Ruh'" die Herzen der andächtigen Hörer erst recht gewann, versteht sich von selber. - Gerald Moores höchst diskretes und dennoch so anschauliches Mitgestalten am Flügel bedeutete vollkommene Assimilation an die Intentionen, an den Stimmcharakter und an die Affektbetonung im Vortrag des Sängers.

fg.

 

  

   Neue Züricher Zeitung, Datum unbekannt.   

    

Liederabend Dietrich Fischer-Dieskau

 

Gewisse äußere Modalitäten, unter denen dieses ganz dem Schaffen Franz Schubert gewidmete Konzert (19. Mai, Großer Tonhalle Saal, letzte Veranstaltung im "Meister-Zyklus" der Konzertgesellschaft Zürich) stattfand, streiften ans Groteske. Das Programmheft enthielt nicht nur die übliche Bitte, die einzelnen Liedgruppen, deren Zusammenstellung übrigens nicht inhaltlich, sondern nur durch die Entstehungszeit bedingt war, nicht durch Beifall zu unterbrechen, sondern erweiterte dies durch das Ansinnen, "nicht umzublättern, ehe das Lied und seine Klavierbegleitung beendet" waren. Und ehe der Sänger mit seinem exemplarischen Begleiter Gerald Moore das Podium betrat und sich den ganzen Abend rosa anleuchten ließ, sandte er einen Redner voraus, der verkündete, daß die Abfolge der Gesänge genau der Chronologie ihrer Entstehung gemäß sei - was übrigens nicht genau stimmte, da nach den fundamentalen Forschungen von O. E. Deutsch bei drei Liedern ("An die Leier", "Der Einsame" und "Im Abendrot") das Entstehungsdatum nicht feststellbar ist, während das zuletzt gesungene Lied "Die Sterne" höchstwahrscheinlich vor dem als vorletzte Nummer gebrachten "Ständchen" entstanden ist.

Nach dieser langen kritischen Einleitung dürfen wir uns mit der Konstatierung begnügen, daß alle fünfzehn Nummern des Bekanntes und Unbekanntes klug mischenden Programms, abgesehen von einigen überflüssigen Koketterien (zum Beispiel in "Der Musensohn" und "Der Einsame" und Dramatisierungen (zum Beispiel in "Erlkönig" und "Ständchen"), stimmlich und technisch absolut meisterhaft vorgetragen wurden, und daß es für jeden Hörer wohl manche Stellen gegeben hat, an denen er von der grandiosen Kunst des Konzertgebers zutiefst ergriffen wurde. Für uns waren das insbesondere die beiden lang verhallenden Seufzer "Wo?" im "Wanderer", die geradezu gespenstische Ruhe in der Gestaltung von "An die Freunde" und das gewaltige Crescendo in den letzten Zeilen von "Heliopolis".

Rh.

 

    

Zeitungsquelle unbekannt, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit schweizerische Presse.

  

Dietrich Fischer-Dieskau gilt zurzeit als der grösste deutsche Liedersänger. Konzerte, mehr aber noch die Schallplatten haben seinen Ruhm verbreitet und den Namen dieses begnadeten Sängers schlechthin zu einem Begriff werden lassen. Schallplattenruhm hat es ja an sich, dass er schließlich von der Person des Künstlers bis zu einem gewissen Grad abstrahiert, dass die Stimme sich gleichsam verselbstständigt, als gehöre sie gar nicht einem Menschen von Fleisch und Blut. Ihre Wirkung wird, ganz unabhängig von der effektiven Leistung, durch das Medium der Erinnerung verstärkt und zu ihren Gunsten korrigiert.

Dietrich Fischer-Dieskau ist an einem Punkt angelangt, wo sich seine leibhaftigen Liederabende und jene, die auf Schallplatten festgehalten sind, allmählich auseinander zu bewegen scheinen. Der grosse Sänger, Star und wahrer Künstler in einer Person, beginnt mit seinen Mitteln zu haushalten. Als kluger Sänger tat er das natürlich schon immer. Seit einigen Jahren weiss er mit einer phantastisch ausgerechneten Dosierung von laut und leise die Kostbarkeit des "Goldes in der Kehle" noch höher zu steigern. Es ist wahrscheinlich ein Wunder, wie er seiner schönen, edlen Baritonstimme innerhalb eines der Hörgrenze nahen Lautstärkebezirkes immer zartere und feinere Nüancen und Schwebungen abgewinnt. Und grossartig ist es, wie er zu diesen zarten, oft nur gehauchten Tönen eine Deutlichkeit des Wortausdrucks beherrscht, die einem Rezitator wohl anstehen würde.

Fischer-Dieskau, begleitet von Gerald Moore, sang dieses Mal (19. Mai im zum Bersten vollen Grossen Tonhallesaal) ein Schubert-Programm - eine erste Gruppe balladesker, heroisch-dramatischer Gesänge wie "Erlkönig", "Der Wanderer", die "Gruppe aus dem Tartarus" und "Memnon", nach der er sich anakreontischen Gefilden zuwandte ("Freiwilliges Versinken", "An die Leier", "An die Freunde"). Ganz nach innen gekehrt wurden dann in der zweiten Hälfte des Programmes intimste lyrische Lieder vorgetragen, deren Interpretation vor einem so grossen Auditorium nur dank der Magie eines grossen Namens noch möglich ist ("Der Einsame", "Im Abendrot", "Ständchen", "Die Sterne" u. a.).

Das Publikum lauschte gebannt den Darbietungen des gefeierten Idols, dem das Prädikat "ein deutscher Meistersinger" nicht vorenthalten werden kann.

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