Zum Opernabend am 29. Juli 1963 in Salzburg

     Süddeutsche Zeitung, 31. Juli 1963     

Lorin Maazels gefährlicher Figaro

Eröffnungsvorstellung des umgebauten Festspielhauses in Salzburg

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So viel über die Eröffnung. Als Ganzes genommen, war die Aufführung auch der eigentliche Beginn der Salzburger Festspiele. An Gespanntheit , Niveau, Eindringlichkeit und Intelligenz übertraf sie die "Zauberflöte" durchaus. Sellners Inszenierung - deren Konzeption souverän ist, und deren zahlreiche brillante Einzelheiten immer nur erklären (und nie ablenken) - hat seit dem Vorjahr noch an Ausgeglichenheit gewonnen. Deryk Mendels Stierkampf-Pantomime scheint reduziert. Fischer-Dieskaus Graf ist kein norddeutscher Herrenreiter mehr. Ein wenig Süden, viel Charme und viel Heiterkeit umgeben jetzt diesen Edelmann, der im Vorjahr mit seiner Reitpeitsche Beethovens Pizarro antizipiert hatte, der ein Scarpia von Kleist gewesen war. Leichtigkeit, Eleganz und Bestimmtheit machten diesen Grafen zum Mittelpunkt des Tollen Tages - obwohl Fischer-Dieskau in der großen Arie und auch im Rezitativ-Getümmel seinen Spieltrieb bis in Fallstaff-Bezirke vorstoßen ließ.

Evelyn Lear - von Sellner während ihrer beiden großen Cherubin-Nummern fast überinszeniert - ist nun ganz in die herrliche Hosenrolle hineingewachsen. Hilde Güden als Gräfin mußte ihrer grausam schweren Es-Dur-Arie einiges schuldig bleiben, aber sie hatte dann noch Innigkeit und Kraft genug, die Partie doch eindringlich zu bewältigen. John van Kesteren machte aus dem Basilio eine komische Kostbarkeit. Leider - und das war der gravierendste Schönheitsfehler - blieb Graziella Sciuttas Susanne ganz flach, ganz kammerkätzchenhaft, allzu hübsch plappernd und allzu ausdruckslos. Für jene Ensemble-Sätze, in denen Susannes Sopran leuchtend strahlen müßte über Gerechten und Ungerechten, wurde das ein arges Manko. Das (um hier ein ganz subjektives Geschmacksurteil abzugeben) schönste Ensemble des Figaro, das C-Dur-Terzett im zweiten Akt, litt sehr darunter.

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Joachim Kaiser


     Münchner Abendzeitung, 31. Juli 1963     

"Figaros Hochzeit" in Salzburg

Mozart mit tänzerischer Geste

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Graf Almaviva, der allein für den ganzen Spaß bezahlen muß, wehrt sich in der Person Dietrich Fischer-Dieskaus mit allen Mitteln seiner seigneuralen Geistesgegenwart. In der einzigen großen Arie, die ihm Mozart gibt, bäumt sich sein verletzter Stolz auf großartige, ja ergreifende Weise auf. Die Stimme der distinguierten Gräfin Hilde Güdens leuchtet wie in den kalten Spektralfarben eines Kristalls. Graziella Sciutta ist die Susanne auf den zierlichen Leib geschrieben. Doch die Rolle verlangt so ziemlich das Äußerste, was ihr kleines, reizendes Stimmchen zu leisten vermag. Geraint Evans ist ein in jeder Hinsicht trefflicher Figaro.

Es war eine Überraschung, die interessante und vielseitige Evelyn Lear als Cherubino zu hören, den sie mit natürlicher Anmut spielte und sang. Eine köstliche Kanaille ist John van Kesterens Basilio. Gewaltiges an Stimme gibt Peter Laggers Bartolo von sich. Patricia Johnsons säuerliche Marzellina ist von stimmlicher Frische, Barbara Vogel eine "degagierte" Barbarina.

Die Wiener Philharmoniker  spielten herrlich und mit großem Humor. Sänger, Maazel und Sellner wurden sehr gefeiert.

Antonio Mingotti



     Kurier, Wien, 30. Juli 1963     

Das Fest begann erst mit dem "Figaro"

Im Kleinen Festspielhaus: "Figaros Hochzeit" in Sellner-Regie mit Lorin Maazel am Pult

Eine festliche Reprise, die die Premiere vom Vorjahr an Wirkung um einiges übertrifft, das liegt gewiß in erster Linie am Wechsel in der musikalischen Leitung, die nun Lorin Maazel innehat. Aber auch Gustav Rudolf Sellner hat seine blitzgescheite, dramatisch gespannte Inszenierung, in der für den Zuschauer jede Situation geistig sogleich transparent wird, wie es der Bühnenrahmen (oder die Rahmenbühne) von Michel Raffaelli jederzeit ist, noch gesteigert, psychologisch vertieft, komödiantisch belebt.

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Sellner hat, wie gesagt, Details geändert, Positionen, Gänge und ähnliches. Sein Berliner "Figaro" vom Frühjahr mag ihn zu kleinen Variationen eines großen Themas angeregt haben. Und im ersten und dritten Finale hat er aus dem Impetus der Musik zusätzlich optischen Elan gewonnen, faszinierende Bewegung, die dem gespannt folgenden Publikum den Beifall nur so aus den Händen reißt. Und in einige Szenen ist ohne Verlust an formaler Strenge Charme, Schalk, Gelöstheit eingeflossen. Was in Österreich besonders goutiert wird und sogar mit Intellekt versöhnen kann.

Im Ensemble, das großartig ist wie 1962, steht, spielt und singt eine neue Gräfin: Hilde Güden, die damit die dritte Frauenpartie dieser Oper in ihren Besitz genommen hat. Mit Liebenswürdigkeit, Noblesse und Musikalität, mit strahlendem Sopranglanz vor allem in den höheren und hohen Lagen. Darunter mangelt es etwas an Volumen, und im Rezitativ wäre mehr Prägnanz in der Diktion wünschenswert. Ebenfalls neu ist der ins Grotesk-Dämonische geführte Bartolo des stimmgewaltigen Peter Lagger, in dessen unmittelbarer Partnerschaft die von Patricia Johnson scharf gezeichnete Marcellina freilich nicht an den Rand des Parodistischen abgleiten sollte.

Bekannt und immer wieder bewundert der pesönlichkeitsreiche Graf von Dietrich Fischer-Dieskau mit herrischer, mitunter auch allzu junkerhafter Attitüde im souveränen Spiel und im vollendeten Gesang. Bekannt auch der profilierte Figaro von Geraint Evans, dessen klangvoller dramatischer Bariton der Rollenauffassung besonders entspricht. Schließlich die Krone aller Susannen, und das vermutlich für lange Zeit: Graziella Sciutti. Ähnlich vollendet war, freilich in anderer Art, vor gut einem Dezennium die Seefried. Schließlich der degagierte Cherubino der bezaubernden Singschauspielerin Evelyn Lear, deren schlanke Stimme runder, sinnlicher geworden ist. Und eine große Leistung in einer kleinen Rolle: John van Kesteren mit seinem Cembalotenor als Basilio.

Barbara Vogel war als Barbarina nicht gerade ein Singvogel. Martin Vantin ein trefflich charakterisierter Don Curzio, Siegfried Rudolf Frese der etwas blasse Antonio. Margaret Nessel und Evelyn la Bruce sangen die Brautjungfern.

Am Pult stand Lorin Maazel und dirigierte seinen ersten "Figaro" – hochbegabte Schüler debütieren heutzutage bei Festspielen – über die Maßen brillant. Sein Aufwand an Gesten, sein forciertes Einsätzegeben ins Orchester und zur Bühne hin mag als Beweis seines Temperaments gelten, vielleicht auch als Zeichen der Freude darüber, daß er das, was die anderen schon lange wissen, nun ebenfalls im kleinen Finger hat... Der Leistung war es nicht abträglich, denn Maazel hat den Geist der Musik im Kopf und ein untrügliches Gefühl für Tempi im Blut. Ein wundervoll klarer, prägnant ausgeformter Orchesterklang, dem bald nach der Ouvertüre kein Zuviel an Spannung mehr anhaftete, bot die wertgleiche, harmonische Ergänzung zur Spielführung Sellners. Ohne Zweifel haben erst mit dieser "Figaro"-Reprise die Salzburger Festspiele 1963 begonnen.

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Herbert Schneiber


     Die Presse, Wien, 31. Juli 1963     

Amüsant bis zur letzten Note

"Die Hochzeit des Figaro" unter Lorin Maazel und Gustav Rudolf Sellner

Die "Figaro"-Aufführung vom vorigen Jahr hat eine interessante und sehr bemerkenswerte innere Verwandlung erfahren. Aus einem unvollkommenen und einigermaßen fragwürdigen Gebilde ist nun ein reizender, beglückender und festspielhaft beschwingter Opernabend hervorgegangen, amüsant und spannend von der ersten bis zur letzten Note. Äußerlich hat sich am Bühnenarrangement von Michael Raffaelli freilich nichts geändert. Nach wie vor wickelt sich das Spiel vor einem durchsichtigen, luftigen Gitterwerk ab, das, dem Szenenwechsel entsprechend, jeweils ein wenig Farbe und Kontur annimmt, seiner irrealen Beschaffenheit nach jedoch in einer Komödie, die mit den Handgreiflichkeiten des Theaters hantiert, mit versperrten Türen und Kabinetten, in die kein Einblick geboten werden soll, geradezu unsinnig erscheint. Gewiß, Unsinn bleibt Unsinn. Aber wenn er sich so hübsch, so geschmackvoll und in so unverletzender Form präsentiert, mag er als offenbar notwendiger Tribut an den Geist moderner Bühnengestaltung eben hingenommen werden, vollends wenn damit dem freien Flug der Musik und der sinngemäßen Entwicklung der vielen entzückenden Spieleinfälle des Regisseurs Gustav Rudolf Sellner nichts in den Weg gelegt wird.

Als Urheber der erfreulichen Verwandlung, die aus einer matten Vorstellung eine brillante schuf, ist in erster Linie der Dirigent Lorin Maazel zu nennen, sein eminentes Talent zeigte sich diesmal in bester, glücklichster Form. Er ist mit Leib und Seele bei der Sache, mit Geist und Körper sichtbar eingespannt in den Prozeß der musikalischen Darstellung. Auf seinem Dirigentenposten tanzt und hüpft er förmlich mit der Musik, um jede Phrase, jede Note fest im Griff zu halten, um überall gegenwärtig zu sein, bei den Instrumentalisten im Orchester wie bei den Sängern auf der Bühne, kurz, um auch nicht das kleinste Partikelchen des Ganzen unbeachtet zu Boden fallen zu lassen. Einem ruhigeren Gemüt mag hier ein Tempo verhetzt, dort ein Akzent überspitzt erscheinen, aber Schärfe und Genauigkeit in der Diktion bilden keine Fehler, wenn sie sich wie in diesem Falle organisch in ein Konzept, in eine Auffassung einordnen. Lorin Maazel hat ein Konzept, und seine Dirigentenleistung ist außerordentlich. Daß sein Temperament übersprudelt, stört nicht die prächtige Wirkung, die es übt. Wann denn soll ein Künstler übersprudeln, als wenn er jung ist? Zum Abgeklärt- und Ausgeglichensein hat er noch reichlich Zeit.

Ein zweites wichtiges Element, das über das Ganze ein neues und vorteilhaftes Licht breitet, wurde durch Hilde Güden als Gräfin in die Aufführung getragen. Mit ihrer hohen, reichen und ausgeglichenen Gesangskunst schuf sie aus der melodischen Besinnlichkeit der Es-Dur-Arie sowie aus der spannungsvollen Gefühlsmischung der C-Dur-Arie oder aus dem reinen Wohllaut des Briefduetts eine dominierende Charakterfigur, die zärtlich duldend und fröhlich teilnehmend am pikanten Intrigenspiel im Mittelpunkt der Handlung steht, wissend und durchschauend, daß es weniger um die Hochzeitsaffären des Figaro und der Susanna geht als um das Verhältnis von Graf und Gräfin. Durch ihr adeliges Wesen in Gesang, Spiel und Ausdruck wird die wahre Schlußpointe des Werkes, der Mozart seine schönste Melodie geschenkt hat, zielbewußt vorbereitet: "Contessa, perdono!"

Mit dieser Melodie gelangt auch Dietrich Fischer-Dieskau als Graf zum absoluten Höhepunkt seiner Darstellung. So prächtig, so vollsaftig und eindrucksvoll er auch alles, was vorhergeht, zu gestalten weiß, diese Schlußphrase strömt ihm bekenntnishaft aus der Seele und zeigt an, daß, im Augenblick wenigstens, es Schluß ist mit den Stubenmädeleien. Wobei er in der Person der Graziella Sciutti als Susanna auf ein besonders liebenswertes Exemplar aus der Zofenwelt zu verzichten hat, auf eine Künstlerin, die in allem was sie unternimmt, Charme ausstrahlt und die mit ihrer süßen, kleinen Stimme große Wirkung übt.

Eine glänzende Figur ist ferner Geraint Evans als Figaro, männlich und vergnügt im Auftreten, überlegen und kraftvoll im Singen, meisterlich in der Gesamtdarstellung, im Balancieren zwischen Aufbegehren und fröhlichem Teilhaben am Intrigenspiel des Ancien Regimes. Evelyn Lear als Cherubino gewinnt mit ihrer schlanken Ephebengestalt und ihrem taktvollen, geschmeidigen Spiel die ungeteilten Sympathien des Publikums und das Herz einer jungen, zärtlichen Barbarina, deren Darstellerin Vogel heißt und selbst den Vornamen Barbara führt.

Peter Lagger als Doktor Bartolo steht selbstbewußt auf festen Füßen und weiß sich in seiner Arie durch markige Akzente geltend zu machen. Ihm folgt, nicht weniger selbstbewußt, Patricia Johnson als Marcelline. Basilio, den Musikmeister, gibt John van Kesteren als buckelnden Schleicher, der als Spezialität eine eigentümliche Krähstimme hören läßt. Endlich sind noch Siegfried Rudolf Frese als Gärtner, Martin Vantin als Don Curzio und die zwei Brautjungfern Margaret Nessel und Evelyn La Bruce zu nennen.

So war es denn ein besonders erfreulicher Opernabend, mit dem das erneuerte alte Festspielhaus eingeweiht wurde. Wobei die warm und wohlig getönte Architektur sicherlich dazu beitrug, die gute Stimmung im Publikum, bei den Sängern und bei den Musikern unseres philharmonischen Orchesters zu fördern. Und die Akustik? Was mich betrifft, so wurde mir jeder Ton und jedes Wort so klar, so rein, so wohlgefällig abgetönt zugetragen, daß ich nach wenigen Tagen aufhörte, an die Existenz akustischer Probleme zu denken.

Heinrich Kralik


     Niederösterreich, 31. Juli 1963     

Sellners "Figaro" eröffnet neu-altes Festspielhaus

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Leider war dieser "Figaro" sehr unerfreulich, sehr unmozartisch und intellektuell überspitzt – eine Wiedergabe, wie wir sie bei den Festspielen in den letzten dreißig Jahren nicht gesehen haben. Böhm-Rennerts treffliche Inszene von 1960 mit einer ausgezeichneten Wiener Besetzung wurde eliminiert und dafür der bekannte bundesdeutsche Regisseur Gustav Rudolf Sellner mit der Regie, der Italiener Michael Raffaelli mit den Bühnenbildern und Lorin Maazel mit der musikalischen Leitung betraut.

Von den Hauptsängern war eigentlich nur Hilde Güden eine Österreicherin, Fischer-Dieskau und Graziella Sciutti sind wenigstens der Wiener Staatsopernatmosphäre verbunden. Figaro, Cherubin, Marzelline waren Angloamerikaner, Basilio ein Holländer, die Vertreter der kleineren Partien zumeist Ausländer. Eine zielbewußtere Abwendung der Festspiele von ihrer österreichischen Herkunft und Aufgabe kann man sich kaum denken. Die Internationalisierung und Verausländerung der Spiele, die einst ein österreichisches Olympia oder Epidauros waren, ist anscheinend unaufhaltsam.

Man würde sich indessen mit dieser aus der europäischen Festspielinflation und der Veränderung in der Struktur des Publikums erklärbaren, wenn auch nicht entschuldbaren Tatsache noch abfinden, wäre die Aufführung nur geschlossener, stilechter und von mozartischer Grazie erfüllter. Da sind Raffaellis Bühnenbilder: vier engmaschige, durchscheinende Drahtnetzwände, die den Podest abgrenzen und auf beiden Seiten abgeschirmte Leerflächen freilassen, so daß sich die Auftritte und Abgänge nur zum Schein durch Türen, in Wahrheit dem Zuschauer sichtbar, aus der Kulisse vollziehen. Nüchtern, stimmungslos, desillusionierend: den Plafond (im vierten Akt den gestirnten Himmel) symbolisiert eine freischwebende, bemalte Scheibe. Die Räume des Schlosses Aguas Frescas sind dürftig möbliert, auch das gar nicht intim wirkende Boudoir der Gräfin; der Audienzsaal wirkt leer und ungemütlich. Im Gartenakt stehen nur einige durchscheinende Draperien, die den Park andeuten sollen. Die Pavillons, in denen sich das ohnedies schwer verständliche Quiproquo abspielt, existieren nicht, die Sänger, die in ihnen Stelldichein halten sollten, gehen einfach in die Kulisse ab. Dazu eine viel zu helle Beleuchtung – Mozarts Bühne kannte nur Kerzen und Öllampen -, die den Rest des reizvollen Nocturnos vollends zerstört. Das ganze trostlos nüchtern und ein Schlag gegen da Pontes und Mozarts sehr genaue Vorschriften.

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Gustav Rudolf Sellner ist ein vielerfahrener Regisseur, dem die nicht allzu komplizierte Gruppierung und Ordnung in diesem Musiklustspiel mühelos gelingt. Von der viel zu hellen Beleuchtung des Gartenakts und der ernüchternden Sichtbarkeit der Auftritte und Abgänge sprachen wir schon. Einzelne Einfälle, etwa, daß Cherubin während Figaros "Nun vergiß leises Flehen...", offenbar vom Trompetenklang hypnotisiert (à la Gloria militar), plötzlich im Marschtempo auf der Stelle zu treten anfängt, sind verfehlt und überspitzt.

Cherubin fürchtet das Militär und tut alles, um sich der Ehre eines Leutnantspatents zu entziehen. Daß Figaro in der Kavatine ("Will der Herr Graf..."), wenn auch nur symbolisch mit einem Stock, als wäre es ein Degen, einen Ausfall wie beim Fechten macht, scheint uns abwegig. Einem Kammerdiener von 1785 wäre nie der Gedanke gekommen, die Waffe gegen seinen Herrn zu erheben. Erst nach 1789 wäre derlei denkbar gewesen. Solche Regieeinfälle mögen in Berlin mehr Beifall finden als bei uns, die wir auf einen von Gustav Mahler geschaffenen und fünfzig Jahre bis zu Karajans Opernleitung fortgesetzten und gepflegten Mozart-Stil zurückblicken können.

Drei glänzende Leistungen tragen die Aufführung. Hilde Güdens Gräfin, nobel und mit dem Wohllaut einer herrlichen, wiewohl kühlen Stimme gesungen und ganz im Sinne Beaumarchais’ gespielt, der meint, sie dürfe nur sehr beherrscht Zuneigung zeigen, ist eine bedeutende Leistung. Dietrich Fischer-Dieskaus Almaviva ist prächtig gesungen und grandseigneural gespielt: ein Edelmann, brutal und gierig, aber von besten Manieren und ein guter Verlierer, der auch, wenn das Spiel verloren ist, immer noch eine Standesperson bleibt. Auf sein "Engel, verzeihe" wird die vielgeprüfte Gräfin allerdings kaum Hoffnung auf seine eheliche Treue bauen. Geraint Evans ist ein sicherer, aber leider etwas humorarmer Figaro, dessen Gravität dem Haushofmeister der Fürstin-Feldmarschall anstehen würde. Ein wenig kokett und doch von echtem Gefühl beseelt die Susanna Graziella Sciuttis, intonationssicher und ein liebenswertes Persönchen. Nicht für eine Idealbesetzung halten wir Evelyn Lear als Cherubin. Die ausgezeichnete dramatische Sängerin entbehrt zuweilen der lyrischen Empfindsamkeit und der knabenhaften Anmut. Die Marzelline Patricia Johnsons verfügt über einen kräftigen, hübschen Mezzo, spielt sich aber ebenso wie der Basilio John van Kesterens, dessen Spieltenor keinen rechten Schmelz besitzt, etwas zu stark in den Vordergrund. Die kleineren Partien sind bei Peter Lagger (Bartolo), Siegfried Rudolf Frese (Antonio), Barbara Vogel (Barbarina) und Martin Vantin (Curzio) gut aufgehoben. Die herrlichen Philharmoniker bewährten sich wie immer. Auch die Kostüme Raffaellis sind stilvoll, wenngleich der Graf im zweiten Akt im Jagdkostüm mit Hirschfänger auftreten sollte, da er ja vorzeitig von einer Jagd heimkehrt und dadurch die ganze Verwirrung auslöst.

Lorin Maazel ist ein routinierter, verläßlicher, kaum aber ein Mozart-Dirigent, wie schon in Wien im Konzertsaal deutlich wurde. Zu Mozart fehlen ihm offenbar Herzensbeziehungen. Er tendiert zur modernen Musik. Seine Leistung war überspitzt, die Ouvertüre wurde aus einem Presto in ein Prestissimo übersetzt,. Nebenstimmen und Baßgänge gerieten allzu deutlich, Details wurden überbetont. Man tut dem Künstler keinen guten Dienst, wenn man ihm solche Aufgaben stellt, und Mozart erst recht nicht.

Die Begeisterung des Publikums, dessen kritische Ader nicht eben stark entwickelt ist, darf nicht überraschen. Man hat bezahlt (und nicht wenig), will für sein Geld applaudieren.

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Dr. Hermann Ullrich


     Salzburger Volksblatt, Datum unbekannt     

Eröffnungspremiere im Kleinen Festspielhaus

"Die Hochzeit des Figaro" in zweiter, geglätteter Auflage

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Zur Einweihung des neuen Hauses hat man eine Reprisen-Aufführung von Mozarts "Hochzeit des Figaro" aus dem vorigen Sommer hernehmen müssen. Es soll sich beim Kleinen Haus ja zuvörderst um eine Mozart-Spielstätte handeln, ein Umstand, der aus der betont profanen Art und Ausstattung des Baues selber nicht erkennbar wird. Jedenfalls kam wohl aus diesem Grund "Faust II", eine der beiden Neuinszenierungen dieses Sommers, als Eröffnungsvorstellung nicht in Frage. Man hätte andererseits auch die bezaubernde, von Karl Böhm dirigierte "Cosi-fan-tutte"-Inszenierung Rennerts, die nun schon zum vierten Male gezeigt werden wird (was übrigens durchaus begreiflich ist), zur Einweihung des Kleinen Hauses heranziehen und damit einen rundweg festlichen Einstand feiern können. Doch tat man das nicht, man wählte die "Hochzeit des Figaro", in der – was die Führung der Darsteller in den ersten drei Akten anlangt – ganz ausgezeichneten Regie Gustav R. Sellners (im vierten Akt gerät sie dann arg ins Schwimmen) und unter der musikalischen Leitung des Festspiel-Debütanten Lorin Maazel, der mit viel Geschick, gutem Können und zielstrebigem Temperament jenen Revoluzzergeist vom Pult her in der Aufführung zur Geltung zu bringen versucht, der in ihr im allgemeinen (wie im besonderen am Auftreten Figaros gegenüber seinem Grafen) im Vergleich zum vergangenen Sommer schon merklich verblaßt ist. Legt auch Maazel in die Wiedergabe der "Figaro"-Partitur, was nach seiner Auffassung darin liegt, die unverbindliche Perfektion, der auf der Bühne die gesanglichen wie die darstellerischen Leistungen der Solisten huldigen, legt sich doch glättend auf die Aufführung, und von einer irgendwann einmal hochgehenden Welle (geschweige denn Woge) irgendwelcher Emotionen wird nichts wahrgenommen. Dazu kommt, daß die dürren, aus Drahtgeflecht gestalteten Bühnenbilder Michael Raffaellis, die in einem Haus, wie es etwa unser Landestheater ist, zu einer glücklichen kontrapunktischen Wirkung gelangen könnten, im nüchternen Kleinen Festspielhaus weitgehend verblühen. Sie gewannen übrigens inzwischen auch in Sellners Berliner "Figaro"-Inszenierung keinen Blumentopf.

Mit dem neuen Dirigenten hat "Figaros Hochzeit" (die im nächsten Jahr zu erneuern uns wichtiger erschiene als die Erneuerung der "Cosi-fan-tutte"-Inszenierung) auch eine neue Gräfin erhalten. Hilde Güden sieht vorzüglich aus und singt auch so, doch warm wird einem bei ihren Arien wenig. Neu ist auch (an Stelle des vortrefflichen Oskar Czerwenka) Peter Lagger als markig singender Bartolo, Elfriede Pfleger, unserer Vorjahrs-Barbarina, sollen die Mandeln "Mandln" machen, weshalb sie heuer absagen mußte. Barbara Vogel ersetzt sie und fügt sich unauffällig in das aus dem Vorjahr hergebrachte Ensemble mit Dietrich Fischer-Dieskau, einem auch stimmlich imposanten Grafen, mit Graziella Sciutti, einer sehr gefälligen Susanne, und mit Geraint Evans, einem stimmbegabten, geschmeidig agierenden Figaro. Evelyn Lears Cherubin entwickelt mehr Süße im Spiel als in der Stimme. Patricia Johnson als Marcellina und John van Kesteren als Basilio werden dagegen jedem Anspruch gerecht. Die Wiener Philharmoniker und der Staatsopernchor kommen willig ihren Aufgaben nach.

Das Premieren-Publikum, das am neuen Haus offensichtlich kaum etwas zu bestaunen fand, zeigte sich vom glatten Schliff der Aufführung angenehm beeindruckt. Es gab viel lebhaften, aber keineswegs einhelligen Beifall.

Hans Kutschera



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