Zum Konzert am 8. März 1964

Die Welt, 9. März 1964  

Musik von säkularer Größe

Benjamin Brittens "War Requiem" unter Karajan – Weitere Konzerte

Innerhalb einer Spielzeit bieten die Philharmoniker zweimal Schuberts Große C-Dur-Symphonie, nur wenige Wochen nacheinander spielen sie Smetanas "Moldau". Trägt es sich jedoch zu, daß nach anderthalb Jahren wieder einmal dasselbe zeitgenössische Werk in einem Konzert erscheint, dann glaubt das Orchester, dies – so geschah es im Programmheft – erklären, ja fast entschuldigen zu müssen.

Dabei liegt es gerade im Falle des Brittenschen "War Requiem" nahe, die Komposition im Konzertrepertoire zu verankern. Bei wiederholtem Hören vertieft sich der Eindruck, daß dieses "Kriegs-Requiem" wohl zu den großen oratorisch-sakralen Werken unseres Jahrhunderts zählt. Das gilt vor allem für die dem lateinischen Requiem eingewobenen Solopartien, in denen Britten zeitlos aktuelle Kriegs-, das heißt Antikriegslyrik aus dem ersten Weltkrieg vertont hat.

Sie stammt von dem englischen Dichter Wilfred Owen, der 1918, fünfundzwanzigjährig, fiel. Es sind symbolträchtige, sensible, zugleich oft schneidend realistische Texte, die mit einem Ton trostloser Versöhnlichkeit enden. Britten hat hierzu eine Musik gefunden, die den Intentionen des Wortes ungemein feinfühlig und tiefgründig nachgeht.

Außerdem haben wir hier in Berlin bisher das Glück gehabt, in der Tenor- und in der Baritonpartie, die den englischen und den deutschen Soldaten musikalisch verkörpern, jeweils Sänger von hohem, ja höchstem Rang zu erleben. In der früheren Aufführung waren es Peter Pears und Walter Berry, jetzt Dietrich Fischer-Dieskau und John van Kesteren. Sie alle vermochten es, zu erschüttern, ohne je das zu streifen, was Brittens Musik vereinzelt nicht gänzlich fernliegt: das allzu Gefühlvolle.

Fischer-Dieskaus Gesangskultur scheint ein neues Optimum erreicht zu haben. Die Möglichkeiten seiner Stimme wirkten geradezu unbegrenzt – das Pianissimo, der Registerwechsel, das Crescendo und besonders das Decrescendo.

Herbert von Karajan leitete den ausgezeichneten Chor der Deutschen Oper Berlin (Einstudierung: Walter Hagen-Groll), den Knabenchor des Staats- und Domchores, die Philharmoniker und die Solisten – unter ihnen Wilma Lipp – mit einer gewissermaßen auf die Spitze getriebenen, psychologisch äußerst raffinierten Bewegungsökonomie. Zum Teil dirigierte er nur mit den Fingern der taktstocklosen, ganz ruhig nebeneinander gehaltenen Hände.

In der charakteristischen Verbindung von extremer Gelassenheit und extremer Suggestionskraft erschloß Karajan alle Verhaltenheit und alle expressive Wucht der Partitur. Die Bläserglissandi im "Pleni sunt coeli"-Chor hatten unvergleichlich Macht und – fast bösen – Glanz. Dazu konnten sie sich im Raum der Philharmonie besonders strahlend entfalten.

Mit einer abwehrenden Geste verhinderte Karajan am Schluß den Beifall, den einige Konzertbesucher selbst nach diesem Werk lauthand äußern wollten.

Joachim Matzner


   

     Zeitung und Datum unbekannt     

   

Benjamin Brittens "War Requiem" unter Karajan

    

Am Totengedenktag des Jahres 1962, nur wenige Monate nach der Uraufführung in der Kathedrale von Coventry, wurde Benjamin Brittens Kriegs-Requiem in Berlin aufgeführt. Nun erklang es wieder in der Philharmonie, gesungen vom Chor der Deutschen Oper und vom Staats- und Domchor, von den Solisten Wilma Lipp, John van Kesteren und Dietrich Fischer-Dieskau, begleitet vom Philharmonischen Orchester, dirigiert von Herbert von Karajan, der seine Fähigkeiten subtiler Klangregie in den Dienst der impressionistisch-farbigen Partitur stellte und der Würde der Totenklage ergreifenden Ausdruck gab; die Hörer bestätigten den ernsten Sinn des Werkes am Ende durch feierliches Schweigen.

Benjamin Britten hat den liturgischen Requiemtext mit Gedichten Wilfred Owens, eines jung im ersten Weltkrieg gefallenen Dichters, durchsetzt, und hat damit der Todesfeier ein leidenschaftlich-aktuelles Element der Anklage hinzugefügt, einer Anklage, die in der Erzählung von Abraham, der gegen das Geheiß des Engels seinen Sohn opfert, ins Metaphysische greift. Aus dieser Grundidee ergibt sich auch die musikalische Form. Der lateinische Requiemtext wird vom Chor zur Begleitung des großen, mit Bläser- und Schlagzeugmassen besetzten Orchesters gesungen, die lyrischen Einlagen gehören den Solisten, Tenor und Bariton, und einem Kammerorchester; in der Verzahnung der Episoden, im Wechsel des Monumentalen und des Intimen liegt einer der Reize der Partitur. Der Beginn sind Glockenklänge und psalmodierendes Murmeln des Chores auf dem Tritonus-Intervall. Das Dies irae bricht mit phantastischem Trompetengeschmetter herein; das Lacrymosa ist ein expressiver Zwiegesang des Solosoprans mit dem in Siebenviertelrhythmus skandierenden Chor. Das Sanctus wird zu einem mystischen Klangspiel der Glocken, der naturalistisch durcheinanderrufenden, sich zur wilden Ekstase des Hosianna steigernden Chorstimmen; der letzte, brutale Höhepunkt ist das Libera me, gleichsam der Durchbruch aus dem Chaos des Lebens in die stille Sphäre des Todes; und es folgt die Begegnung der versöhnten Feinde im Totenreich, es folgt als menschliches Schlußwort das Wiegenlied "Let us sleep now", das in einen kurzen sakralen A-capella-Chorsatz ausklingt.

Zu bewundern war die Leistung des Chors der Deutschen Oper, den die Knaben des Staats- und Domchors, auf einer Fernempore aufgestellt, tapfer unterstützten; eindringlich die Solisten, der strahlende Sopran Wilma Lipps, der hohe lyrische Tenor John van Kesterens und der ausdrucksmächtige Bariton Dietrich Fischer-Dieskaus, der schon die Uraufführung in Coventry gesungen hat; souverän die Interpretation Herbert von Karajans, die dem klangbestimmten musikalischen Stil ebenso wie der geistigen Besonderheit des zwischen Liturgik und menschlicher Passion vermittelnden Werkes gerecht wurde.

W. A

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